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       # taz.de -- Protest in Belarus: Revolution in den Innenhöfen
       
       > In Belarus wird weiter demonstriert: Neben den Massen in Metropolen
       > formiert sich der Widerstand gegen Lukaschenko vor allem auf
       > Nebenschauplätzen.
       
   IMG Bild: „Hört auf, Belarus zu vergewaltigen“, fordert eine Demonstrantin Mitte Oktober in Minsk
       
       Die Abfalleimer aus Gussbeton rund um den Kinderspielplatz sind
       weiß-rot-weiß angepinselt. Ein kleines Zeichen des Widerstands gegen das
       Regime zwischen Hochhäusern im westlichen Stadtteil Kamennaja Gorka der
       belarussischen Hauptstadt Minsk. Die fünf riesigen Wohnblocks wurden alle
       vor rund zehn Jahren gebaut. In der Nachbarschaft steht ein großes
       Bürohaus, in dem sich auch westliche IT-Firmen eingemietet haben.
       
       Doch nun wird der Innenhof neu getauft: „Viertel der Solidarität“ heißt es
       nun in roten Lettern auf weißem Grund an einem Transformatorhäuschen.
       Jemand hat darunter ein Graffito der beiden Minsker DJs gesprüht, die es
       kurz vor der Präsidentschaftswahl gewagt hatten, auf einer Veranstaltung
       für den Amtsinhaber den [1][sowjetischen Rocksong „Peremen“] (Wende) von
       Wiktor Tsoi aufzulegen.
       
       Die beiden vom Staat angestellten DJs kamen wegen Hooliganismus ins
       Gefängnis und wurden zu den ersten Helden des belarussischen
       Volksaufstands.
       
       Die sowjetische Rocklegende Tsoi und die Farben Weiß-Rot-Weiß bringen nun
       im „Solidaritätsquartier“ die Generationen zusammen. Dazu kommen auch
       Luftballons in den Farben der oppositionellen, vom Autokraten Alexander
       Lukaschenko verbotenen Landesflagge, was den vielen Kindern gefällt.
       
       ## Die Angst wird weniger
       
       Die Leute haben Tee und Glühwein in Thermoskannen in den Innenhof gebracht,
       dazu Gebäck. „Es ist das erste Mal, dass wir uns zu so einem lockeren
       Plausch treffen, bisher kannte ich meine Nachbarn kaum“, sagt ein junger
       IT-Fachmann. Zu den Demonstrationen gehen weder er noch seine Ehefrau. Noch
       beschränken sich ihr Widerstand und Veränderungsdrang auf den Innenhof.
       
       Doch dies ist viel in Belarus, dessen 9,5 Millionen Einwohner 26 Jahre lang
       den Sowjetnostalgiker Lukaschenko schweigend und von Angst zerfressen
       ertragen haben. Zu den Wahlen seien sie früher einfach nicht hingegangen,
       so wie zuvor ihre Eltern in der Sowjetunion, sagen die beiden. „Wenn meiner
       engsten Familie Böses geschieht, erst dann gehe auch ich auf die Straße“,
       sagt die Frau. „Dann hält mich nichts mehr zurück und meine ist Angst weg.“
       
       Die neuesten Entwicklungen in Minsk zeigen, dass dergleichen nun beginnt.
       Das Regime geht inzwischen [2][gegen die friedlichen Frauenproteste vor],
       auch Rentner werden nun von den Sicherheitskräften geschlagen. Alleine in
       Minsk wurden bereits Hunderte von Frauen teils brutal festgenommen,
       Dutzende geschlagen, Hunderte öffentlich erniedrigt.
       
       Provoziert hat das Regime damit allerdings nun auch dezentralisierte
       Kleindemonstrationen zwischen den gesichtslosen Wohnblocks, oft werden
       abends von Demonstranten wichtige Straßenkreuzungen in den Randbezirken mit
       Menschenketten blockiert. Manchmal waren es schon so viele, dass
       Lukaschenkos Einsatzkräfte sie mangels Personal an vielen Orten der
       Zweimillionenstadt gewähren lassen mussten.
       
       ## Organisation von unten
       
       Solche lokalen Märsche sind unspektakulär für die Medien, doch sie
       integrieren wie ein Stadtteilfest. Und dies in einem Land, in dem bisher
       fast alles von oben organisiert wurde.
       
       Derweil konzentriert sich das Hauptinteresse auf die Teilnehmerzahl der
       sonntäglichen Großdemonstrationen. In [3][Kiew wurde der Maidan 2013/14]
       erst dann zu einer Gefahr für die Machthaber, als Sonntag für Sonntag immer
       mehr Bürger in die Hauptstadt fuhren, viele aus anderen Landesteilen.
       
       In Minsk nimmt die Teilnahme an den Protestmärschen trotz massiver
       Repressionen immerhin nicht ab. Der nächste Schritt jedoch wären Risse in
       Lukaschenkos Machtbasis.
       
       [4][Der ehemalige Kulturminister und Botschafter Pawel Latuschko] erscheint
       nicht als politisches Schwergewicht, zumal auch er nun wie [5][die
       informelle Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja] im Exil weilt. Dass
       auch Latuschko gewaltig störte, zeigten jedoch die Drohungen des Regimes,
       die ihn schließlich ebenso zur Ausreise bewegten.
       
       ## Noch sind es Einzelfälle
       
       Inzwischen sind alle sieben Präsidiumsmitglieder des oppositionellen
       „Koordinationsrats“ im Gefängnis oder Ausland. Gleichzeitig tauchen im
       Internet immer wieder Aufnahmen von Sicherheitskräften auf, die aus Protest
       ihre Uniformen verbrennen. Sogar Staatsanwälte haben gekündigt. Doch noch
       sind das Einzelfälle.
       
       Die Opposition wiederum mag vielen, vor allem ausländischen Experten zwar
       [6][als führungslos erscheinen], doch ihre Forderungen sind seit Anfang der
       Proteste klar und immer die gleichen: Lukaschenkos Verzicht auf eine
       erneute Amtszeit, freie und faire Neuwahlen, ein Dialog der Machtstrukturen
       mit Tichanowskajas „Koordinationsrat“ und die Freilassung von allen
       politischen Gefangenen.
       
       Dazu kommt, dass die Opposition ihre Machtdemonstrationen auf der Straße
       auch ohne Führung ganz gut hinbekommt, und dies landesweit.
       
       Geradezu ausgelassen ist inzwischen die Stimmung im Minsker „Viertel der
       Solidarität“ in Kamennaja Gora geworden. Das rührige Organisationskomitee
       hat den bekannten Minsker Rocksänger Pit Palau für ein akustisches Konzert
       vor dem Transformatorhäuschen gewonnen.
       
       ## Protestkonzert vor dem Transformatorhäuschen
       
       Palau trägt mit krächzender Stimme die weißrussischsprachige
       Revolutionshymne [7][„Drei Schildkröten“ seiner alten Band N.R.M.] vor, was
       so viel bedeutet wie „Unabhängige Republik der Träume“. Die rund 300
       versammelten Nachbarn singen mit und das korrekt, obwohl sie wie fast alle
       Belarussen im Alltag nur Russisch sprechen.
       
       Palau tritt inzwischen bis zu dreimal täglich in Innenhöfen auf, gibt ein
       Dutzend Konzerte die Woche. „Ich will den Leuten Mut machen, und zeigen,
       dass sie nicht alleine sind“, sagt er.
       
       Die „Unabhängige Republik der Träume“ erscheint plötzlich greifbar nahe,
       doch der zum Revolutionsbarden mutierte Rockstar warnte noch kurz vor dem
       Auftritt im Gespräch mit der taz: „Europa muss nun endlich wirklich mit
       Lukaschenko und auch Putin brechen, keinerlei Verhandlungen über unsere
       Köpfe hinweg!“
       
       Kaum ist das Konzert beendet und sind die letzten Selfies gemacht, raunt
       Palau dem Berichterstatter ins Ohr: „Und nun bloß weg hier! Ich fürchte
       Lukaschenkos Rache, ich will nicht der Victor Jara von Belarus werden.“
       [8][Der chilenische Barde starb 1973 beim Militärputsch] von General
       Augusto Pinochet einen grausamen Tod.
       
       25 Oct 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://twitter.com/nicolasdepedro/status/1295390507523244032
   DIR [2] /Frauenprotest-in-Belarus/!5715062/
   DIR [3] /Demonstranten-vom-Maidan-in-Kiew/!5050133/
   DIR [4] /Exil-Belarussinnen-in-Polen/!5709585/
   DIR [5] /Praesidentschaftswahl-in-Weissrussland/!5695506/
   DIR [6] /Erneute-Demonstrationen-in-Belarus/!5708333/
   DIR [7] https://www.youtube.com/watch?v=DlXB6YsMASE
   DIR [8] /Urteil-wegen-Mord-an-Saenger-Victor-Jara/!5313606/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Paul Flückiger
       
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