URI: 
       # taz.de -- Die Wahrheit: Die Rache der Zahlen
       
       > Höhere Mathematik in tieferen Lagen oder Warum dem guten Adam Riese zu
       > Coronazeiten der Rechenschädel mächtig brummt.
       
   IMG Bild: Ist es noch Corona oder schon Mathematik?
       
       Corona ist ein guter Lehrer oder eben auch eine gute Lehrerin. Wir werden
       ganz neu auf einige unserer Lerndefizite hingewiesen, sensibilisiert für
       unsere Mängel und Wissenslücken. Allein schon die Frage, ob es „das“ Virus
       heißt oder „der“ Virus. Beides ist möglich und sollte – wann greift endlich
       die Dudenredaktion ein? – möglichst bald gendergerecht um „die“ Virus
       erweitert werden. Doch weit mehr als die Orthografie brauchen wir
       Mathematik in der Pandemie.
       
       Mehr Lohn im öffentlichen Dienst auch als Dank in Coronazeiten? Die 4,5
       Prozent mehr Lohn in der niedrigsten Lohngruppe sind immer noch wesentlich
       weniger Geld als die 3,2 Prozent mehr in den höheren Lohngruppen. Es lohnt
       einfach nicht, wenig zu verdienen.
       
       Ein Zahlenwust nach dem anderen wird über uns gegossen, und sauber
       nachrechnen ist das Mindeste, was wir tun können. Und müssen! Wir brauchen
       Kontrolle und Prüfung bei all den Zahlen und Skalen. Das exponentielle
       Wachstum will berechnet sein, die ganzen Infektionsraten. Oder die
       Windkraft und Windrichtung beim Stoßlüften. Ist Durchzug größer oder gleich
       Stoßlüften? Wer wenig oder kaum Ahnung von Mathematik hat, wird spätestens
       jetzt die Rache der Zahlen spüren. Und wer scheitert heutzutage nicht schon
       bei einfachen Prozentrechnungen oder beim Dreisatz?
       
       ## Kurz vor zwölf
       
       Für Bayerns Obermeister Markus Söder war es plötzlich „fünf vor zwölf“,
       einen Tag später aber dann „kurz vor zwölf“ – und das, obwohl fast 24
       Stunden vergangen waren. Nach Adam Riese müsste es zu diesem Zeitpunkt
       schon weit nach zwölf gewesen sein. Oder ist ihm die Zeitumstellung
       dazwischengekommen?
       
       Bei anderen Rechenkünstlern ist es offensichtlich noch viel schlimmer. Die
       Deutsche Bahn kann nicht mal bis zehn zählen. Im Hauptbahnhof Hannover gibt
       es Gleis 1 bis 4, dann geht es aber sofort weiter mit Gleis 7. Gleis 5 und
       6 fehlen komplett. Hat da niemand durchgezählt? Oder haben sich die Bahner
       von beiden Enden aufeinander zugearbeitet? Und dann waren plötzlich zwei
       Gleise über? Beziehungsweise zu wenig? Oder sind die Gleise 5 und 6
       Hannovers geheimes „Gleis 9 ¾“, von dem Menschen wie der Zauberlehrling
       Stephan Weill mit dem Hogwartsexpress ins Internat tuckern? Fährt Adam
       Riese von Hannover aus zur Zauberschule? Oder ist die in Hannover
       angesiedelt – dort, wo Lord Gerhard Voldemort residiert, zum fünften Mal
       verheiratet, wenn von den zuständigen bunten Blättern richtig gezählt
       wurde?
       
       In diesen Tagen eröffnet der BER, der Großflughafen Berlin-Brandenburg.
       Nach allem, was sich dort bisher zugetragen hat und in all den Jahren der
       Verzögerungen nicht abgeflogen ist, kann sich niemand vorstellen, dass dort
       tatsächlich alle Gates vorhanden sein sollen. Wenn es ein Deutsches Zentrum
       für Rechenfehler gibt, dann ist es dieser Flughafen. Der Airport hat die
       Wahrscheinlichkeitsrechnung völlig außer Kraft gesetzt.
       
       ## Milliarden Liter
       
       Zurück nach Hannover beziehungsweise weiter in die Provinz: Die
       Hannoversche Allgemeine Zeitung berichtete kürzlich über zwei geplante
       Gülleaufbereitungsanlagen in Friesoythe im Kreis Cloppenburg unter der
       Überschrift: „Wird die Gülle zu Gold?“ Das Abwasser soll eingeleitet werden
       in die Sagter Ems – nicht nur ein überraschender Flussname, sondern auch
       eine verblüffende Rechnung der HAZ, die eine voraussichtliche Abwassermenge
       von 1,2 Millionen Litern errechnete. Am nächsten Tag musste die HAZ die
       Zahl berichtigen, nun war nicht mehr von Litern die Rede, sondern von 1,2
       Millionen Kubikmetern. Und das sind – gerechnet wieder nach Adam Riese –
       1,2 Milliarden Liter.
       
       Solche Rechenfehler begeht sonst nur der Scheuer-Andi. Trotzdem scheint der
       Verkehrsminister der Einzige zu sein, der richtig eins und eins
       zusammenzählt, denn wer hätte im Januar damit gerechnet, dass Scheuer im
       goldenen Oktober noch immer im Amt ist? Oder hat der Verkehrs-Andi einfach
       nur die Wahrscheinlichkeitsrechnung außer Kraft gesetzt?
       
       Neulich hieß es in den Meldungen: „Große Menschen haben ein höheres Risiko,
       am Coronavirus zu erkranken. Für Menschen, die größer sind als 1,80
       Meter achtzig, ist die Wahrscheinlichkeit, an Covid-19 zu erkranken,
       doppelt so hoch wie für kleinere Personen.“ Dass Gesundheitsminister Jens
       Spahn sich angesteckt hat, ist deshalb kein Wunder, wird doch für ihn eine
       Länge von 1,92 Meter verzeichnet. Wenn Bundespräsident Frank-Walter
       Steinmeier in Quarantäne ist wegen eines infizierten Sicherheitsbeamten mit
       einer Körpergröße von 1,78 Metern, wie lange dauert es dann, bis zumindest
       das Bundeskabinett Herdenimmunität erreicht hat? Und wie groß ist
       eigentlich Adam Riese?
       
       Fragen über Fragen, Zahlen über Zahlen, sicher ist nur eins: Adam Riese hat
       sich längst auch infiziert, aber zeigt nur milde Symptome: Ihm brummt der
       Rechenschädel.
       
       28 Oct 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Bernd Gieseking
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Coronavirus
   DIR Mathematik
   DIR Kolumne Die Wahrheit
   DIR Kolumne Die Wahrheit
   DIR Kolumne Die Wahrheit
   DIR Garten
   DIR Kolumne Die Wahrheit
   DIR Mann
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Die Wahrheit: Der Mensch wackelt pandemisch
       
       „Was wackelt, kippt nicht!“: An der Fitness arbeiten und Pfunde abschmelzen
       ist ein hehres Ziel, und geht weit über Nordic Walking hinaus …
       
   DIR Die Wahrheit: Gereihter Trost Rücken an Rücken
       
       Auch wenn immer mehr junge Leute leicht verächtlich von „Holzmedientapeten“
       sprechen, Bücherregale sind die Schatzkammern des Lebens.
       
   DIR Die Wahrheit: Das Corona-Quartett
       
       Was tun als Bühnenmensch in einem erneuten Lockdown, der die Kleinkunst
       weit hinter Silvesterböllern verortet? Einfach reich werden!
       
   DIR Die Wahrheit: Der letzte Schnitt
       
       Ein Leben ohne Rasenmäher ist möglich, aber die Stellung in der
       provinziellen Öffentlichkeit ist wacklig ohne passende Gartengerätschaften.
       
   DIR Die Wahrheit: Zugige Zugspitze
       
       Auf den höchsten Gipfel Deutschlands zu kommen, ist gar nicht so einfach.
       Da ist Training gefragt. Es sei denn, man nimmt die Gondel.
       
   DIR Die Wahrheit: Corona kurz und gut
       
       Seit Jahrzehnten wird der kleine Mann verspottet und macht sich Sorgen um
       die Größe seines Penis. Aber in Pandemiezeiten hat er gewonnen.