URI: 
       # taz.de -- #MeToo in Dänemark: Gehört und geahndet
       
       > Seit Wochen erheben viele Frauen Vorwürfe gegen Männer aus der Kultur-,
       > Medien- und Politikbranche. Kopenhagens Oberbürgermeister trat nun
       > zurück.
       
   IMG Bild: Langfristig erfolgreicher Protest: Eine #MeToo-Demo in Kopenhagen im Jahr 2018
       
       „Wenn du nicht meinen Schwanz lutschst, dann werde ich deine Karriere
       fucking zerstören.“ Das soll ein einflussreicher Medienchef zu Sofie Linde,
       einer bekannten dänischen TV-Moderatorin, gesagt haben. Zwölf Jahre ist es
       her, doch den Versuch der sexuellen Nötigung machte sie erst vor einem
       Monat bei der „Zulu Comedy Galla“ öffentlich – und setzte damit eine neue
       #MeToo-Debatte in Gang. Und auf einmal steht nicht nur die Medienszene
       unter Druck, sondern auch die politische bis hin zur dänischen Regierung.
       
       Im Oktober 2017 erhoben Dutzende Frauen in der New York Times und dem New
       Yorker Vorwürfe gegen den Filmproduzenten Harvey Weinstein und lösten damit
       eine weltweite Debatte über sexualisierte Gewalt und Machtmissbrauch aus.
       In Dänemark gab es damals einen Fall in der Filmbranche, über den
       diskutiert wurde, doch Konsequenzen gab es für den beschuldigten
       Produzenten keine. Richtig angekommen ist #MeToo in dem kleinen
       skandinavischen Land nie – bis jetzt. Denn nun scheint es, als hätte ein
       Kulturwandel stattgefunden.
       
       Anfang Oktober musste Morten Østergaard, Chef der Sozialliberalen Partei
       (Radikale Venstre), wegen eines zehn Jahre zurückliegenden Falls sexueller
       Belästigung einer Parteikollegin zurücktreten. Østergaard soll eine
       Kollegin ohne ihre Zustimmung am Schenkel angefasst haben. Er stritt die
       Vorwürfe ab, doch nachdem Kritik aus der eigenen Partei an seinem Umgang
       mit dem Vorfall aufkam, gab er seinen Posten ab. Seit seinem Rücktritt
       erhoben weitere Frauen Belästigungsvorwürfe, manche gab Østergaard zu.
       
       Und er ist nicht der einzige Politiker, der momentan im Verdacht steht,
       seine Macht missbraucht und Frauen sexuell belästigt zu haben. Am Montag
       ist Kopenhagens Oberbürgermeister und Vizevorsitzender der Sozialdemokraten
       Frank Jensen zurückgetreten. Zuvor gab es Vorwürfe der Belästigung von
       mehreren Mitarbeiterinnen, darunter ungewollte Berührungen und Küsse. Er
       räumt zwar Fehlverhalten in seinem 30-jährigen Wirken als Politiker ein,
       gibt aber den Mediendruck als Grund für seinen Rücktritt an. Er könne sein
       politisches Amt unter diesen Umständen nicht mehr ausführen.
       
       ## Auch Soldatinnen und Politikerinnen berichten
       
       Vergangene Woche musste ein Verlagschef seinen Posten niederlegen, ein
       Journalist und Zeitungsgründer wurde angeklagt, und ein prominenter
       Radiomoderator sieht sich mit Vorwürfen konfrontiert. Dass Männer wegen
       sexueller Belästigung und Nötigung ihre Jobs verlieren, war bis vor Kurzem
       unvorstellbar in Dänemark. Ganz anders als im Nachbarland Schweden.
       
       Dort legten Tausende Frauen das Fehlverhalten von mächtigen Männern offen,
       die Vorwürfe reichten von ungewollten Berührungen über sexuelle Belästigung
       bis hin zu Vergewaltigungsvorwürfen. Betroffen war nicht nur die
       Kulturszene, auch Soldatinnen und Politikerinnen berichteten von sexuellen
       Übergriffen, die sie in ihrem Arbeitsalltag erlebt hatten. Einen Höhepunkt
       erreichte die Debatte, als der Kulturschaffende und Ehemann eines Mitglied
       der Schwedischen Akademie, Jean-Caude Arnault, wegen Vergewaltigung
       verurteilt wurde. Infolgedessen wurde 2018 kein Literaturnobelpreis
       vergeben.
       
       Die Debatte führte dazu, dass das Thema der sexualisierten Gewalt und
       Belästigung in den Lehrplan eingeführt wurde. 2018 trat dann ein
       verschärftes Sexualstrafgesetz in Kraft, seitdem ist Sex nur mit
       ausdrücklicher Zustimmung legal, physische Gewalt ist nun keine Bedingung
       mehr, um eine Tat als Vergewaltigung zu bezeichnen. „Nirgendwo hat #MeToo
       so große Auswirkung gehabt wie in Schweden“, schrieb die schwedische
       Journalistin Åsa Linderborg kürzlich in der dänischen Zeitung Information.
       Doch was war in Schweden so anders als in Dänemark?
       
       Es könnte an der unterschiedlichen Medienberichterstattung beider Länder
       liegen. Das sagen zumindest die Wissenschaftlerinnen Tina Askanius von der
       Universität Malmö und Jannie Møller Hartley von der Universität Roskilde.
       Die beiden veröffentlichten 2019 eine Studie zur Berichterstattung in
       Schweden und Dänemark, die zeigt, dass sich schwedische Medien deutlich
       intensiver mit #MeToo beschäftigt haben. Von Oktober bis Dezember 2017 gab
       es in den vier größten Zeitungen Schwedens fünfmal so viele Beiträge zu der
       Thematik wie in Dänemark. Zudem wurden die Texte dort prominenter
       platziert. In Dänemark fand die Berichterstattung meist weiter hinten im
       Meinungsteil der Zeitung statt. Und auch der Tenor der Beiträge – etwa 10
       Prozent – war der Debatte kritischer gegenüber eingestellt. In Schweden
       betraf dies nur 1 Prozent der Texte.
       
       ## Eine „größere Toleranzschwelle“?
       
       Doch heute ist die Lage in Dänemark anders. Lindes erhobene Vorwürfe wurden
       live im Fernsehen übertragen. Daraufhin unterschrieben 1.600 Frauen aus der
       Medienbranche einen Brandbrief in der Tageszeitung Politiken, der Sexismus,
       Übergriffe und sexuellen Missbrauch in der Branche beklagte. Darin erzählen
       sie von unangemessenen Bemerkungen über ihr Aussehen, sexualisierte
       Nachrichten und grenzüberschreitendes Verhalten, die sie im Arbeitsalltag
       erleben.
       
       Auf den Brief folgten weitere Schreiben: In dänischen Zeitungen erzählten
       300 Frauen aus der Politik, mehr als 500 Ärztinnen, über 750 Forscherinnen,
       fast 700 Mitarbeiterinnen der Filmbranche und mehrere Kellnerinnen und
       Köchinnen, dass sie Ähnliches erlebt hatten. Fast jeden Tag werden neue
       #MeToo-Fälle in Dänemark publik. Doch warum sprechen sie erst jetzt?
       
       „Vielleicht haben die Dänen eine größere Toleranzschwelle“, meinte Ning de
       Coninck-Smith, dänische Professorin für Geschichte an der Universität
       Aarhus, 2018 in einem Interview der Zeitung Berlingske. „Wir waren die
       Ersten, die Pornografie und Abtreibung legalisiert haben. Die Frage ist, ob
       diese Freizügigkeit auch eine Schattenseite hat. Einerseits erkennen wir
       das Recht der Frauen über ihren eigenen Körper an. Auf der anderen Seite
       ist es für uns schwieriger zu akzeptieren, dass Frauen auch Opfer von
       Missbrauch werden können“, sagte sie.
       
       Schweden und Dänemark unterscheiden sich hier. Aus Spaß nennt man in
       Dänemark die Nachbar*innen oft „Verbotsschweden“, aber für viele Dän*innen
       beinhaltet dieser Scherz eine ernste Seite. Während sie sich selbst als
       locker verstehen, sehen sie die Schwed*innen als versteift an. Liberal zu
       sein hat in der dänischen Gesellschaft einen hohen Stellenwert. In Schweden
       sei es wichtiger, sich möglichst korrekt zu verhalten, so die schwedische
       Journalistin Åsa Linderborg. „In Dänemark war #MeToo eine Frage, über die
       man legitim streiten konnte. In Schweden wurde sexuelle Belästigung als
       indiskutabel angesehen“, sagte sie der Zeitung Information.
       
       ## Neues Licht auf einen alten Fall
       
       Nun aber hat sich etwas verändert. Das dänische Sexualstrafrecht soll sich
       dem schwedischen Modell anpassen. Und auch ein gesellschaftlicher Wandel
       ist zu erkennen. Das zeigt ein alter Skandal, der nun den dänischen
       Außenminister Jeppe Kofod zu Fall bringen könnte.
       
       Im Jahr 2008 hatte Kofod, damals 34 und Abgeordneter der Sozialdemokraten,
       auf einem Parteilehrgang Sex mit einem 15-jährigen Mädchen gehabt. Der Fall
       ist der Öffentlichkeit seitdem bekannt, doch wirkliche Folgen gab es für
       Kofod nicht. Der damals 34-Jährige entschuldigte sich für seinen „Mangel an
       Urteilsvermögen“ und die „moralisch unangemessene Beziehung“ zu der
       Jugendlichen, doch gab auch an, das Alter des Mädchens nicht gekannt zu
       haben, was sein politisches Leben rettete: Er trat zwar als
       außenpolitischer Sprecher der Partei zurück, blieb aber Abgeordneter,
       verlor nur seine Ausschussämter und ging später ins EU-Parlament. Erst
       kürzlich wurde er zum Außenminister ernannt.
       
       Doch nun mitten in der zweiten #MeToo-Welle wird der Fall von damals von
       verschiedenen dänischen Medien noch einmal ausgerollt. Die
       Berichterstattung legt nahe, dass es wenig glaubhaft ist, dass Kofod das
       Alter des Mädchens nicht gekannt habe, sie war damals Schulpraktikantin bei
       den Sozialdemokraten im Parlament und hatte auch mit Kofod
       zusammengearbeitet.
       
       Nun fragen sich heute viele, ob Kofod wirklich der richtige Mann für das
       hohe Amt sei. Manche Politiker fordern seinen Rücktritt als Außenminister.
       Die Regierungschefin Mette Frederiksen sprach ihm jedoch ihr Vertrauen aus.
       
       Wie der Fall ausgehen wird, werden wohl die nächsten Wochen zeigen. Denn
       den Kulturwandel, den Dänemark in den letzten drei Jahren durchgemacht hat,
       haben schon andere mutmaßliche Täter zu spüren bekommen. Immer mehr Frauen
       werden laut und erfahren Gerechtigkeit. Männer verlieren ihre Posten,
       werden angeklagt, und das für deutlich weniger schlimme Vorwürfe als bei
       Kofod.
       
       19 Oct 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Kåre Holm Thomsen
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt #metoo
   DIR Dänemark
   DIR Mette Frederiksen
   DIR Sexualisierte Gewalt
   DIR Dänemark
   DIR Schwerpunkt #metoo
   DIR Schwerpunkt #metoo
   DIR Harvey Weinstein
   DIR Schwerpunkt #metoo
   DIR Feminismus
   DIR Schwerpunkt #metoo
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Parlamentswahl in Dänemark: Rücktritt trotz Sieg
       
       Dänemarks Ministerpräsidentin hat überraschend gewonnen. Aber statt ihre
       bisherige Regierung fortzusetzen, will sie offenbar etwas Neues
       ausprobieren.
       
   DIR Drehbuchautorin klagt wegen Belästigung: #MeToo in Chinas Staatsfernsehen
       
       Als die Chinesin Zhou Xiaoxuan ihre Belästigungserfahrung öffentlich
       machte, wurde sie zensiert und bedroht. Ihr Fall landet nun vor Gericht.
       
   DIR Publizistin Sara Hassan über sexuelle Belästigung: „MeToo hat einiges verändert“
       
       Sexuelle Belästigung beginnt subtil und fußt oft auf sozialer Ungleichheit.
       Die Publizistin Sara Hassan spricht über den Mythos der „Grauzone“.
       
   DIR Kritik an der #MeToo-Statue in New York: Wer ehren will, muss hören
       
       In New York gibt es seit vergangener Woche eine Statue, die an die
       #MeToo-Bewegung erinnern will. Gut gemeint, aber nicht so gut gemacht.
       
   DIR #MeToo-Vorwurf beim SWR: Versetzt, befristet, vertuscht?
       
       Vor dem Arbeitsgericht in Stuttgart klagen zwei SWR-MitarbeiterInnen gegen
       ihren Sender. Ein mutmaßlicher #MeToo-Fall wirft im Prozess Fragen auf.
       
   DIR Debatte in Frankreich: Feministischer Burn-out
       
       Sollen Frauen Männer hassen? Darüber diskutiert Frankreich nach einem Buch.
       Eine Begegnung mit der Autorin Pauline Harmange.
       
   DIR US-Journalistin Jodi Kantor über #MeToo: „Der Kampf wird dauern“
       
       Jodi Kantors Recherchen über Hollywood-Produzent Harvey Weinstein haben zu
       #MeToo beigetragen. Nun erscheint ihr Buch darüber auf Deutsch.