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       # taz.de -- Debatte um sozialen Wohnungsbau: Ein durchschaubares Manöver
       
       > Endlich werden in Berlin wieder Sozialwohnungen gebaut, doch die CDU
       > spricht von neuen Ghettos. Was ist da los?
       
   IMG Bild: Sozialer Wohnungsbau in Berlin-Lichtenberg
       
       Jetzt hat sich auch der Bausenator zu Wort gemeldet. „Wer die Hälfte der
       Berlinerinnen und Berliner als Problemfall darstellt, der hat vielleicht
       selbst ein Problem.“ Sebastian Scheels deutliche Worte im RBB-Inforadio vom
       Mittwoch gehen an Christian Gräff. Der CDU-Abgeordnete hatte Ende August
       vor dem „massiven Bau von Sozialwohnungen“ in Stadtrandbezirken wie
       Marzahn-Hellersdorf gewarnt. Diese drohten „wie die Paris-Vorstädte sozial
       zu verslummen“. Berlin hat wieder eine Ghettodebatte.
       
       Anlass für die alarmierende Wortwahl des Christdemokraten war die Antwort
       des linken Bausenators auf eine Anfrage von Gräff. Daraus ging hervor, dass
       von den 990 Neubauten, die die landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften 2019
       in Marzahn-Hellersdorf errichtet haben, mehr als die Hälfte, nämlich 510,
       preisgebunden waren. Eigentlich eine gute Nachricht, zeigt sie doch, dass
       das „Modell der kooperativen Baulandentwicklung“, das der Senat 2014
       beschlossen hat, zu greifen beginnt. Hinter dem bürokratischen Wortungetüm
       verbirgt sich die Verpflichtung für Investoren, bei Bauvorhaben mindestens
       30 Prozent der Wohnungen als Sozialwohnungen zu errichten. Deren Miete
       liegt meist bei 6,50 Euro kalt pro Quadratmeter.
       
       Was für manche schon fast zu viel Miete ist, gilt der CDU als möglicher
       Treiber einer sozialen Entmischung. „Die Bewohner, die hier lange wohnen,
       ziehen immer schneller weg“, sagte Gräff nach der Veröffentlichung der
       Zahlen durch die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen. Er
       fordert, den Bau von Sozialwohnungen am Stadtrand einzustellen. Stattdessen
       sollten Wohnungen für Familien gebaut werden, die keinen
       Wohnberechtigungsschein bekommen und bis zu 9 Euro pro Quadratmeter zahlen
       könnten.
       
       Nicht nur der linke Bausenator Sebastian Scheel weist seitdem immer wieder
       darauf hin, dass die Hälfte aller Berlinerinnen und Berliner ein Anrecht
       auf einen Wohnberechtigungsschein hat – und sich damit für eine der
       Sozialwohnungen in den Neubauten bewerben kann. Auch der Stadtsoziologe
       Matthias Bernt vom Leibniz-Institut für raumbezogene Sozialforschung (IRS)
       in Erkner betonte in einem Gastbeitrag im Tagesspiegel, dass sowohl die
       „Diagnose“ Gräffs als auch die „vorgeschlagene Therapie“ einem Faktencheck
       nicht standhielten.
       
       ## Kritik aus der Wissenschaft
       
       „Nicht der Neubau von Sozialwohnungen treibt die Entmischung voran, sondern
       der Mangel an bezahlbarem Wohnraum“, schreibt Bernt. Denn die größte
       Konzentration von niedrigen Einkommen finde sich nicht in den Neubauten der
       Wohnungsbaugesellschaften, sondern „in solchen Beständen, die in den 1990er
       und 2000er Jahren privatisiert wurden und jetzt von Unternehmen wie
       Vonovia, AD Properties oder Deutsche Wohnen verwaltet werden“.
       
       Bernt stellt darüber hinaus klar, dass die Gleichsetzung von
       Konzentrationen unterer Einkommensschichten mit sozialer Desorganisation,
       Krise und Kriminalität „irreführend“ sei. „Das wesentliche Merkmal eines
       Ghettos ist seine Funktion als Ort der sozialen Isolation einer
       stigmatisierten Gruppe“, so der Fachmann. „Ein Ghetto hat die Aufgabe,
       diese Gruppe von der Mehrheitsgesellschaft fernzuhalten.“ Und Slums seien,
       so Bernt, „Orte baulichen und sozialen Verfalls“.
       
       Demgegenüber seien aber die Bewohner von Marzahn, der Heerstraße oder des
       Kottbusser Tors „Teil einer diverser werdenden Mehrheitsgesellschaft“: „Sie
       sind zwar öfter als im Durchschnitt arm, aber eben auch auf vielfache Weise
       in die Stadtgesellschaft eingebunden, etwa wenn sie in Prenzlauer Berg
       Kitakinder betreuen, in Charlottenburg Rechtsanwaltsbüros putzen oder in
       Kreuzberg feiern gehen.“ Dass Sozialmieter sich keine Wohnung woanders
       leisten können, mache ihre Wohnorte noch lange nicht zu Ghettos.
       
       Doch nicht nur wissenschaftlich befindet sich die CDU mit ihrer Baupolitik
       auf einem Abstellgleis. Sie verheddert sich auch in erstaunliche
       Widersprüche. Wie ein Mantra kritisierte nicht nur die SPD, sondern auch
       die CDU immer wieder, dass Scheels Vorgängerin Katrin Lompscher zu wenig
       baue. Allerdings hatte die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung schon 2016
       die Planungen für elf sogenannte Neue Stadtquartiere vorgelegt. Dass die
       Elisabethaue in Pankow nicht zu ihnen gehörte, hat die Opposition wortreich
       kritisiert. Nun, da endlich gebaut wird, die Politik von Rot-Rot-Grün mit
       einem Ghetto-Vorwurf zu konfrontieren, ist deshalb allzu durchschaubar.
       
       ## Politische Interessen
       
       Tatsächlich stecken hinter der Kritik von Christian Gräff politische
       Interessen, die, wenn auch unter veränderten Vorzeichen, auch die Grünen
       teilen. Die Christdemokraten monieren, dass mit dem „Modell der
       kooperativen Baulandentwicklung“ vor allem die sechs landeseigenen
       Wohnungsbaugesellschaften zum Zuge kommen. Denn die Fördermittel, die die
       Investitionsbank bereithalte, seien für private Investoren schlicht nicht
       attraktiv. Vor diesem Hintergrund macht die Forderung GräffDurchschaubares
       Manövers, Wohnungen bis zu neun Euro bauen zu können, Sinn. Dann kämen auch
       private Bauträger auf ihre Kosten.
       
       Auch die Grünen wünschen sich mehr Vielfalt beim Bauen, etwa zugunsten von
       Genossenschaften. Dass sie dabei wie die CDU schon mal über das Ziel
       hinausschießen, zeigte vor Kurzem ein Tweet von Monika Herrmann. Die grüne
       Bürgermeisterin von Friedrichshain-Kreuzberg nannte ein Wohnhochhaus, das
       die landeseigene Howoge in Lichtenberg baut, „grauenhaft“. Dort entstehen
       400 Wohnungen, davon die Hälfte als Sozialwohnungen.
       
       19 Oct 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Uwe Rada
       
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