# taz.de -- Joe Bidens Rhetorik vor den US-Wahlen: Keine Kompromisse mehr
> Joe Bidens Versöhnungsrhetorik ist nicht glaubwürdig und hat mit der
> Realität wenig zu tun. Eine echte progressive Politik der Demokraten wäre
> nötig.
IMG Bild: Biden-Fans bei einer Drive-In-Kampagne an der Dallas High School in Dallas, Pennsylvania
Die Vereinigten Staaten von Amerika sind derzeit einfach zu erklären, wenn
man dieser Erzählung Glauben schenkt: Es gibt die Guten und die Bösen. Die
Bösen sind mental verstrahlt und lügen sich die Welt zurecht. Ihr Anführer
ist ein vulgärer Rassist, dem vermutlich schon eine narzisstische Kränkung
Anlass zu einem Militäreinsatz geben könnte, und seine Jünger würden ihm
gläubig folgen. Im Land selbst führen sie längst einen Glaubenskrieg. Und
die Bösen sagen ja selbst, dass auch Jesus nicht den Frieden gebracht habe,
sondern mit dem Schwert gekommen sei.
Die Guten dagegen wollen, dass alle Menschen Chancen auf Bildung und
Gesundheitsversorgung haben, die Welt vor dem Untergang gerettet wird und
der furchtbare Spuk im Weißen Haus an diesem 3. November endet.
Anschließend reicht man den Bösen die Hand und hofft, sie mögen wieder zur
Besinnung kommen. Das Land überwindet dadurch seine Spaltung.
So die Erzählung, die derzeit viele Liberale und Linke in den USA
verbreiten und der viele Europäer.innen nur zu gern Glauben schenken
wollen. Das ist, mit Verlaub, Unsinn. Die USA sind tiefer gespalten denn
je, seit in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts die
Rassentrennung aufgehoben wurde. Ein „Common Ground“, also eine gemeinsame
gesellschaftliche Basis, ist nicht in Sicht und wird auch gar nicht
gesucht. Denn Wut, Hass und Verzweiflung, Ekel und Abscheu sind auf beiden
Seiten gut gediehen.
[1][Die pastorale Versöhnungsrhetorik], mit der der demokratische Kandidat
Joe Biden bis zuletzt seinen Wahlkampf bestreitet, mag eine schöne
Erzählung sein, aber sie ist nur eine Kulisse aus Pappmaschee. Sie ist
nicht glaubwürdig und und hat mit der Realität nichts zu tun.
Nach vier Jahren des inneren Kriegszustands könnte vielleicht ein Mahatma
Gandhi Frieden suchen, nicht aber eine politische Linke, die die Regierung
von Donald Trump als anhaltenden Psychoterror erlebt und mit ansehen
musste, wie der Präsident die Institutionen der Demokratie schliff, Hass
und Hetze verbreitete, Minderheiten vom Wählen abzuhalten versuchte, die
Reichen immer reicher machte, die Pandemie verniedlicht, die USA von den
alten Partnern entfremdete und die Welt tiefer in die Klimakrise trieb.
Die republikanische Partei war schon seit dem Ende der Amtszeit von
Präsident George W. Bush dabei, [2][sich in einen Haufen Glaubenskrieger zu
verwandeln]; seitdem ist es nur schlimmer geworden. Auch Barack Obama war
mit seinem Versuch gescheitert, eine Politik der ausgestreckten Hand zu
betreiben.
Anstatt eine klebrige Soße voll des süßen Pathos zu vergießen, müsste eine
progressive Erzählung von einem Präsidenten Joe Biden handeln, der am
Morgen nach seiner Amtseinführung eine Reform des Wahlsystems vorantreibt,
der es wagt, den Supreme Court um zwei Richter.innenplätze zu erweitern,
der der Kohle- und Frackingindustrie die Basis entzieht und Investitionen
in erneuerbare Energien steckt und der denen, die es sich leisten können,
mehr Steuern abverlangt. Auftreten müsste ein Präsidentschaftskandidat, dem
internationale Organisationen und transatlantische Verpflichtungen nicht
weniger bedeuten als heimische Wahlergebnisse.
Die globale Lage ist ohnehin viel zu ernst, als dass man sich mit
Kompromissen aufhalten dürfte. Das gilt für die Klimakrise, und es gilt für
die Pandemie. Allein 9 Millionen Menschen in den USA sind mit dem
Coronavirus infiziert, schon über 225.000 sind an Covid-19 gestorben. Die
zweite Welle lässt gerade wieder das Leben in ganz Europa zum Stillstand
kommen. Mit Coronaleugner.innen, die konsequent vom „Chinavirus“ sprechen,
kann es keine Eindämmung der Pandemie geben. Mit Klimaleugnern gelingt
schon lange kein globaler Kampf gegen die eskalierende Erderhitzung.
Europas Hoffnung liegt nicht in den Versöhnten Staaten von Amerika. Eine
unversöhnlich-progressive US-Politik birgt das größere Versprechen.
31 Oct 2020
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## AUTOREN
DIR Barbara Junge
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