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       # taz.de -- Die Wahrheit: Der Enkelstrick
       
       > Alle Welt warnt vor dem Enkeltrick, dabei muss die finstere Energie der
       > Kinder nur umgeleitet werden in eine grandiose Geschäftsidee…
       
       Wer braucht schon den Enkeltrick, wenn man vom „Enkelstrick“ profitieren
       kann? Das ist nämlich meine neue Geschäftsidee: Unter diesem Markennamen
       werden bald Kinder mit zarten Fingern Schals für einsame Opas und Omas
       stricken. So etwas nennt man Win-win-Situation – die Kinder nehmen etwas
       für das Leben mit, denn Handwerk hat goldenen Boden; mögliche junge
       ADHS-Kandidaten lernen, sich auf „zwei rechts, zwei links, eine
       fallenlassen“ zu konzentrieren; bei mir klingelt die Kasse – und die Alten
       tragen mit Liebe gemachte Accessoires, und müssen nicht mehr frieren.
       
       Die Internetpräsenz www.enkelstrick.de scheint zwar schon vergeben zu sein
       – aber www.enkelstrick.net ist eh passender. Etwas problematischer könnten
       die rechtlichen Auflagen sein: Wie viele Stunden dürfen Kinder pro Tag
       stricken, und kann ich sie dazu zwingen, bei entsprechender Auftragslage
       die Mittagspause durchzustricken? Weil Textiles Gestalten (anders als
       Bouldern oder „Grand Theft Auto“) jedoch unter die „guten“ Hobbys fällt,
       erwarte ich auf meine an Bäumen und Masten der Nachbarschaft angebrachten
       Zettel mit der Aufschrift „Umsonstbetreuung: Kinder-Handwerks-Nachmittage!
       Hier im Kiez!“ jedenfalls rege Rückmeldungen.
       
       Und die Hygienemaßnahmen werden selbstverständlich beachtet: Ich habe vor,
       die Kleinen unter freiem Himmel stricken zu lassen. Schließlich bin ich
       nicht Mr. Murdstone aus „David Copperfield“, der seine kindlichen
       Angestellten dazu zwingt, in einer lauten und stickigen Fabrik Flaschen zu
       reinigen. Bei uns im Hinterhof ist es dagegen richtig gemütlich, die
       Mülleimer riecht man fast gar nicht, und für Catering ist auch gesorgt: Bei
       jedem fertigen Schal gibt es ein tic tac bar auf die Kralle. Und schon ist
       man wieder für zwei Stunden frisch.
       
       Die fertigen Schals gehen umgehend in den Versand. Um auch hier
       konjunkturell ausgewogen zu wirtschaften, habe ich mich entschlossen, für
       diesen Job wiederum Rentner einzusetzen. Sie legen die Schals vorsichtig
       zusammen, schieben die Päckchen in ihre Hackenporsches und wackeln damit
       zur Post. Natürlich bekommen die für mich tätigen Nebenjob-Senioren
       Prozente, wenn sie selbst etwas bei „Enkelstrick“ erwerben: Entweder Erlass
       der Portokosten oder ein Drittel Preisnachlass auf den dritten Schal.
       
       Denn meine Schals sind allerbeste Qualität: Ich verwende ausschließlich
       Angorawolle, und es wird nicht lebend gerupft. Stattdessen habe ich
       auftragslose Kulturschaffende gefunden, die den Angorakaninchen eigenhändig
       die feinen Haare auskämmen. Für zehn Kilo Wolle braucht man zehn Kaninchen
       (und bekommt von mir 10 Euro) – die Kulturschaffenden halten die Kaninchen
       bei sich und sind somit praktischerweise Subunternehmer.
       
       Sie profitieren also enorm von den überaus flexiblen Arbeitszeiten im
       Homeoffice. Nur um die Entsorgung der Köttelketten müssten sie sich
       gefälligst selbst kümmern.
       
       6 Nov 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jenni Zylka
       
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