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       # taz.de -- Vor 100 Jahren eröffnet: Das demokratische Varieté
       
       > Das Berliner Varieté „Scala“ überstand die Weltwirtschaftskrise, aber
       > nicht die Nazis. Gründer Jules Marx starb 1944 im KZ Sachsenhausen.
       
   IMG Bild: Das Scala-Varieté, Aufnahme von 1935
       
       Berlin im Oktober 1920. Immer öfter wurden in der Stadt Frauen mit
       verwegenen schwarzen Umhängen gesichtet, die als Werbefläche dienten. Dabei
       hatten es die frechen Spatzen doch schon längst von den Dächern gepfiffen:
       Am Abend des 2. November 1920 sollte unter der Leitung von Jules Marx eine
       neue Varietébühne namens Scala in der Martin-Lutherstraße 22–24 eröffnet
       werden.
       
       Fünf Monate nach der Eröffnung, bei der unter anderem das ukrainische
       Nationalballett sowie die „Scala-Girls“ aufgetreten waren, ließ das
       Management in der Filmwelt eine neue Sensation verkünden: „Gunnar Tolnäs
       ist in Berlin! Berlins Frauen und Mädchen haben jeden Abend in den
       Scala-Palast zu pilgern, um ihren Liebling bewundern zu können.“ Ab 13.
       April 1921 trat der tolle Tolnäs, ein heute vergessener dänischer
       Schauspieler, dann tatsächlich als „Der Maharadscha in Berlin“ auf, und das
       vor 3.000 entfesselten Fans, denn über so viele Plätze verfügte das
       Theater, das einmal der Schöneberger Eispalast war.
       
       Im selben Monat hatte Marx seinem Programmdirektor kurzerhand gekündigt, um
       selbst als künstlerischer Direktor das Szepter in die Hand zu nehmen. Als
       Scala-Betreiber stand er nicht allein auf weiter Theaterflur, acht weitere
       Geschäftspartner, darunter der Kinopionier Karl Wolffsohn, waren an der
       GmbH beteiligt.
       
       Der am 2. Juni 1882 in Frankfurt am Main als Julius Marx geborene
       Kaufmannssohn hatte bis dato nichts mit Theater und Glamour zu tun gehabt.
       Als braver Bankkaufmann hatte er zunächst an der Londoner Börse sein Geld
       verdient, dann war er 1914 nach Deutschland zurückgekehrt. In London hatte
       er die lukrative Verbindung von Szene, Musik und Akrobatik in den
       einschlägigen Music Halls kennengelernt und ein Gespür dafür entwickelt,
       wie man das Publikum am besten um den Finger wickelt.
       
       1921 buhlten über 150 Varietétheater in Berlin um das vergnügungssüchtige
       Publikum, das nun in der Scala rundum versorgt wurde. Im rechten Flügel des
       Hauses waren Restaurationsbetriebe untergebracht: ein Weinrestaurant, ein
       Klubsaal und eine Likörstube. Ein Casino mit Ballsälen namens Casanova
       komplettierte das clevere Konzept. Doch die Pressereaktionen auf die
       Premiere waren eher durchwachsen, vor allem wurde die schlechte Akustik des
       eigentlich „erstklassigen“ Varietés beanstandet. Marx und seine Mitstreiter
       behoben die Mängel. Es entstand die beliebte Varieté-Revue mit opulenten
       Kulissen, ein Conférencier führte durch das Programm, während das
       „Nummerngirl“ in den Pausen über die Rampe tänzelte.
       
       Die Zuschauer wurden von durch die Luft wirbelnden Akrobaten, tollkühnen
       Hochseilartisten oder gelehrigen Tieren verzaubert. Sie lachten über die in
       den 1920er Jahren unverzichtbaren Clowns wie Grock oder staunten Bauklötze
       über geschickte Magier. Weltstars, die etwas auf sich hielten, rissen sich
       darum, in den Revuen der Scala aufzutreten. Durch den internationalen
       Glamour wurde auch der Slogan: „Denn heut zeig ich dir ganz Berlin, heut
       werf ich mich in Gala. Erst geht’s auf die Tauentzien und abends in die
       SCALA …“ geprägt.
       
       Anfangs noch als „Dilettant“ belächelt, hatte Marx die Zweifler eines
       Besseren belehrt und zusammen mit seinen Geschäftspartnern ein
       Varietétheater von Weltruf geschaffen. Gerade durch seinen vermeintlichen
       Dilettantismus hatte er – mit seinem unverbauten und frischen Blick auf das
       Varietégeschäft – sogar Anfang der 1920er Jahre die Klippen
       „Hyperinflation“ und „Erhöhung der Vergnügungssteuer“ umschiffen können.
       
       Während die Sparte andernorts dauerhaft stagnierte, lief Marx zu
       Höchstformen auf: „Das Varieté der Laszivität, der sanften Koketterie, der
       pikanten Entkleidungsszenen gehört der Vergangenheit an“, verriet er einem
       Zeitungsreporter im Februar 1925. Auch nicht begüterten Familien sollte ein
       Besuch ermöglicht werden, das „demokratische Varieté“ müsse das längst
       nicht mehr zeitgemäße „aristokratische Varieté“ ersetzen. So wurde fortan
       an Sonntagnachmittagen das volle Programm zu ermäßigten Preisen gespielt.
       
       Im Herbst 1929 erschütterte der Börsencrash die Welt. Da hatte sich Marx in
       weiser Vorausahnung längst mit seinen Geschäftspartnern zum Scala-Konzern
       zusammengeschlossen und betrieb als dessen Generaldirektor weitere
       Varietés, darunter das Plaza im ehemaligen Ostbahnhof. Doch auch der
       Scala-Konzern geriet in Zahlungsschwierigkeiten, und die Dresdner Bank
       beendete als Hauptkreditgeber die Zusammenarbeit. 1933 floh Marx nach
       Frankreich.
       
       ## Goebbels triumphierte
       
       Sein Nachfolger wurde Eduard Duisberg, der die Scala als
       Varieté-Betriebs-GmbH zunächst weiterführte. 1934 erfand er als erste
       Neuerung die „Crazy Shows“, die „verrückten“ Sonderprogramme, während die
       Nationalsozialisten perfide Pläne schmiedeten. „Führer gibt mir den
       Auftrag, die Scala bis 1. Januar zu arisieren“, schrieb Joseph Goebbels am
       26. November 1937 in sein Tagebuch, um kurz darauf zu triumphieren: „Sie
       ist jetzt ganz zahm geworden. Wie wir sie haben wollten.“ Am 10. August
       1944 verbot er alle Veranstaltungen „mit nicht kriegsmäßigen
       Darstellungen“.
       
       Da lebte Jules Marx schon nicht mehr. Anfang 1943 hatte Frankreich ihn an
       die Gestapo ausgeliefert, die ihn in das KZ Sachsenhausen brachte, wo er am
       8. Mai 1944 starb. Die legendäre Scala legte in der Nacht vom 21. auf den
       22. November 1943 ein Bombenhagel in Schutt und Asche.
       
       Heute erinnert eine Gedenktafel in der Martin-Luther-Str. 14 an die
       Geschichte des legendären Vergnügungstempels, aber auch an das unwürdige
       Nachspiel, als Karl Wolffsohn eine Rückerstattung der Scala durch die
       Varieté-Betriebs-GmbH sowie den Wert der Plaza mit Zinsen von der Dresdner
       Bank forderte.
       
       Die Bank bestand auf der Erfüllung vermeintlich noch bestehender
       Kreditbürgschaften durch die jüdischen Gesellschafter, der Rechtsstreit
       endete mit einem Vergleich. Die Gesellschafter verzichteten auf jegliche
       Entschädigung und mussten die gegnerischen Anwaltskosten übernehmen.
       
       2 Nov 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Bettina Müller
       
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