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       # taz.de -- Sehnsuchtsort Nordamerika: USA – trotz allem
       
       > Die letzten Jahre waren hart. Doch wenn unser Autor einen Ort suchen
       > müsste, an dem er ankommen könnte, ohne sich aufzugeben: Es wären noch
       > immer die USA.
       
   IMG Bild: Menschen, die so viel wacher, lebendiger, zugewandter sind
       
       Ich war 16, und es roch nach süßem Mais. Die Luft war klebrig, das Wasser
       schmeckte nach Schwimmbecken, voller Chlor und seltsam abgestanden, und
       auch wenn ich es damals noch nicht genau sagen konnte, heute verstehe ich
       es: Der Boden, der Grund, die Erde fühlte sich dünn an und jung, nicht so
       alt wie das München, das ich kannte, sondern neu, brüchig, meines.
       
       Ich war zu Hause, in Champaign, Illinois, für ein Jahr, das mein Leben
       veränderte; ein Jahr, weit weg von Deutschland. Das war sicher Teil der
       Erfahrung, dieses Land, in das ich hineingeboren wurde, aus einer Distanz
       zu sehen und zu spüren, wie gut sich das anfühlte, fort zu sein. Aber der
       entscheidendere Teil war positiv nicht im Gegensatz, sondern aus sich
       heraus – es war eine Ahnung von Freiheit, Offenheit und Neugier, die sich
       mit den Menschen verband; und das ist bis heute geblieben.
       
       Ich weiß, dass ich vieles erst langsam verstanden habe, erst nach und nach
       an mich herangelassen habe. Ich erinnere mich an die Seminare in der
       Universität in Hamburg, in Berlin, in München, in denen ich mich dagegen
       wehrte, wenn von der CIA und dem Coup in Guatemala und vom Iran die Rede
       war – ich glaubte, da einen Furor zu spüren, eine deutsche
       Selbstgewissheit, sich am amerikanischen Beispiel ins Recht zu setzen; und
       ja, ich denke, dass das auch Teil der Stimmung und der Argumente war,
       damals Anfang der 1990er Jahre und bis heute.
       
       Aber das schien fern, dieses andere, verbrecherische [1][Amerika], es
       schien verdeckt und vergangen; die Gegenwart war angebrochen, und sie
       sollte nie mehr enden. Das war das Gefühl damals, das war das fahle,
       falsche Versprechen, und ich glaubte daran, ohne mich aktiv zu entscheiden;
       ich war Teil dieser Gegenwart und wollte es sein. Ich sah die Widersprüche,
       ja, ich sah die Schuld, aber nicht in der Tiefe, nicht in der Konsequenz,
       und die Frage, wie die Rolle der USA in der Nachkriegszeit zu bewerten ist:
       Zerstörung von Demokratien, Zerstörung der Natur – diese Frage wird
       Historiker*innen noch eine Weile beschäftigen.
       
       Der indische Essayist [2][Pankaj Mishra] hat das gerade in der New York
       Review of Books aufgeschrieben, die Lebenslügen des Liberalismus, der seine
       eigenen Verbrechen, seine eigenen Grausamkeiten immer gut mit dem Verweis
       auf die andere Seite vertuschen konnte (wirklich?). Und überhaupt wird
       gerade dieses kurze amerikanische Jahrhundert, das 1945 begann und
       wahlweise 2001, 2016 oder 2020 endet, von verschiedenen Seiten historisiert
       und damit einer grundsätzlichen Kritik zugänglich gemacht.
       
       Die Politologin Katrina Forrester, Autorin von „In the Shadow of Justice“,
       etwa, die den Philosophen [3][John Rawls], durch sein Werk „A Theory of
       Justice“ Ahnherr eines für sie letztlich apolitischen, weil nicht für
       ökonomische Gleichheit argumentierenden Liberalismus, vor dem Hintergrund
       der Pathologien des gegenwärtigen Kapitalismus dekonstruiert. Oder Sam
       Moyn, Historiker an der Yale University, der in der Rhetorik der
       Menschenrechte eine Camouflage der neoliberalen Weltordnung erkennt –
       Ideale, die nicht umgesetzt werden können oder müssen, es reicht schon der
       Appell, um auf der richtigen Seite zu stehen.
       
       Und ja, natürlich waren die vergangenen vier Jahre hart, verstörend,
       zerstörerisch, natürlich hat sich ein Abgrund aufgetan von 400 Jahren
       Rassismus, der seinen Repräsentanten im Weißen Haus hat. Auch die
       vergangenen 20 Jahre waren hart, die Kriege, die völker- und
       menschenrechtswidrig begonnen wurden, die Planlosigkeit, die Willkür, die
       Allmachtsfantasien dieses Amerikas, das sich auf einer biblischen Mission
       wähnt.
       
       Aber, das große Aber: Ich finde dort immer noch Menschen, die so viel
       wacher, lebendiger, zugewandter, freundlicher sind, so viel diverser,
       schwarz, braun, jüdisch, muslimisch, christlich, die spirituell
       Diesseitigen, die naturzugewandten Transzendentalisten, die
       Hoffnungsvollen, die Ankommenden, die Mutigen und Neuen.
       
       Ich finde dort eine Linke, die akademisch und zugleich aktivistisch ist und
       die Demokratie, in Theorie und Praxis, von Occupy Wall Street bis Black
       Lives Matter auf ihre Art verändert; ich finde dort Texte, die so viel
       klüger, schneller, leichter, komplexer, tiefer, schlauer sind – einfach
       schlauer, als das im immer überheblichen Deutschland gesehen wird; ich
       fühle mich zu Hause.
       
       Ich weiß nicht, wer die Wahl gewinnt, ich weiß vor allem nicht, ob der
       Gewinner dann auch ins Weiße Haus einzieht; ich ahne, dass die kommenden
       Wochen hart sein werden, von Gewalt und Gerichten geprägt; ich ahne auch,
       dass es so oder so eine Art Abschied ist, dass die Ruinen des
       amerikanischen Traums wie Trümmer in der Landschaft liegen bleiben werden.
       
       Dennoch, wenn ich weggehen müsste von hier, und das ist ja etwas, über das
       schon mehr und mehr Menschen nachdenken, wenn ich einen Ort suchen müsste,
       wo ich ankommen könnte, ohne mich aufzugeben, wo ich ich sein könnte und
       gleichzeitig Teil einer Art von Wir, das inklusiv ist und nicht
       ausschließend, dann wäre es dieses Land, in dem ich mehr Freunde habe, die
       sich nach mir erkundigen, in dem mehr Bücher erscheinen, die ich lesen
       will, in dem mehr Menschen leben, die die Welt mit offenen Augen sehen.
       
       Es ist genau dieser brüchige Boden, es ist der dünne Firnis der
       Zivilisation, wie sie in Europa sagen würden, es ist dieses ewig Neue,
       dieses Entstehende, dieses Unfertige, das mich anzieht. Amerika, hat der in
       Berlin lebende US-Politikwissenschaftler Daniel Ziblatt gerade in einem
       Gespräch gesagt, kann immer noch ein Modell sein, für eine Demokratie, die
       multiethnisch ist und für alle offen.
       
       Ich kann das ernsthaft nicht über Deutschland sagen. Ich würde mich freuen,
       wenn es dazu kommt, ich würde gern in einem Land leben, das sich des
       Reichtums bewusst ist, der in den Menschen besteht. Ich will auch daran
       mitarbeiten, hier wie dort, trotz allem.
       
       3 Nov 2020
       
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   DIR [1] /Bildband-Divided-We-Stand/!5721827
   DIR [2] https://www.nybooks.com/articles/2020/11/19/liberalism-grand-illusions/
   DIR [3] /Essay-ueber-offene-Grenzen/!5502032
       
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