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       # taz.de -- Feminismus und Trans* Frauen: Vereinigt euch!
       
       > Trans* Rechte gefährden keine Frauenrechte. Tatsächlich machen ihre
       > Perspektiven nicht nur den Feminismus, sondern die Welt besser.
       
   IMG Bild: Demonstrant:in in London
       
       In den letzten Jahren hat die Sichtbarkeit transgeschlechtlicher und
       nichtbinärer Menschen zugenommen. Sie fordern selbstbewusst ihr Recht auf
       gesellschaftliche Akzeptanz ein. Zeitgleich sind nicht wenige Frauen und
       Feminist*innen besorgt über die Ausweitung der Selbstbestimmungsrechte
       für trans* Menschen, weil sie dazu führen könnten, dass trans* Frauen
       feministische Schutzräume missbrauchen. Hieran haben sich heftige
       [1][Debatten darüber entzündet, wer eine Frau sein darf und was
       Weiblichkeit bedeutet]. Nun melden sich hier eine trans*aktive Politikerin,
       eine queere Historikerin, eine lesbische Sozialwissenschaftlerin und eine
       Geschlechterforscherin der Sozialen Arbeit zu Wort.
       
       Die [2][Frage nach Geschlechtszugehörigkeit] ist juristisch und
       naturwissenschaftlich eigentlich längst entschieden. Das
       Bundesverfassungsgericht urteilte 2011: „Es ist wissenschaftlich gesicherte
       Erkenntnis, dass die Zugehörigkeit eines Menschen zu einem Geschlecht nicht
       allein nach den äußerlichen Geschlechtsmerkmalen im Zeitpunkt seiner Geburt
       bestimmt werden kann, sondern sie wesentlich auch von seiner psychischen
       Konstitution und selbstempfundenen Geschlechtlichkeit abhängt.“ Damit haben
       transgeschlechtliche Menschen das Recht auf körperliche Unversehrtheit; die
       bis dahin geltende Voraussetzung einer Genitaloperation für
       Personenstandsänderungen wurde außer Kraft gesetzt. Seitdem ist es in
       Deutschland rechtlich möglich, dass Frauen einen Penis haben und Männer
       eine Vulva. Tragischerweise folgte auf diese Rechtsprechung jedoch kein
       gesellschaftlicher Prozess, in dem [3][Aufklärung und Akzeptanz der
       Vielfalt körperlicher Unterschiede] gefördert wurden. Das muss sich ändern:
       Die gesellschaftliche Situation muss zur rechtlichen aufschließen.
       
       Es ist nachvollziehbar, dass einige sich durch die zunehmende Sichtbarkeit
       von trans* Menschen verunsichert fühlen. Wir alle sind in einer
       Gesellschaft groß worden, in der uns von Geburt an vorgelebt und
       einverleibt wurde, dass es nur Jungen und Mädchen gibt. An welchen
       körperlichen Merkmalen beide Geschlechter zu unterscheiden sind, wussten
       wir nicht erst aus den Biologiebüchern. Dieses kollektive Wissen wird nun
       infrage gestellt. Denn die Überzeugung, dass nur die zwei – gegensätzlich
       gedachten – Geschlechter wirklich, echt und natürlich sind, muss im 21.
       Jahrhundert wissenschaftlichen Erkenntnissen weichen. Ähnlich wie bei der
       Klimaschutzdebatte werden unbequeme Fakten als „Ideologie“ abgewertet, um
       diese dann infrage stellen zu können.
       
       Manche Bedenken, insbesondere von feministisch engagierten Frauen, gilt es
       allerdings ernst zu nehmen: Denn hier werden urfeministische Anliegen
       tangiert, die auch nach 200 Jahren Frauenbewegungen noch nicht eingelöst
       sind: Fragen der gleichen gesellschaftlichen Teilhabe und vor allem nach
       dem Schutz vor Gewalt. Gerade lesbische und feministische Frauen erfahren
       selbst häufig sexuelle Gewalt und Ausgrenzung. Sie engagieren sich seit
       Jahrzehnten für die Rechte und den Schutz von Frauen und haben Räume
       erkämpft und gestaltet, die Frauen vorbehalten sind. Nun wollen auch trans*
       Frauen Zugänge zu diesen Räumen, Diskursen und solidarischen Vernetzungen.
       Gefährden also Selbstbestimmungsrechte von trans* Menschen Frauenrechte?
       Wer darf eine Frau sein? Und: Mit wem können wir feministische Kämpfe
       führen?
       
       Es ist jedoch nicht nur falsch, sondern auch gefährlich, trans* Frauen das
       Frausein abzusprechen, sie als geschlechtlich abartige Männer darzustellen,
       die sich unlauter Zugang zu Frauenräumen verschaffen wollen. Diese
       Entmenschlichung weist starke historische Parallelen auf. Mit ähnlicher
       Argumentation wurden in der Nazidiktatur homosexuelle, sexualitäts- und
       geschlechtsnonkonforme Menschen stigmatisiert und ermordet. Die
       strafrechtliche Verfolgung dauerte bis 1994 an. Und wie so oft entlädt sich
       Zorn über allgemeine strukturelle Missstände an gesellschaftlich
       schwächeren Gruppen, die dafür nicht verantwortlich sind. Die
       cisgeschlechtlichen Männer, die die Statistiken sexueller Gewalt anführen,
       verschwinden dabei aus dem Blick.
       
       Die aktuelle Debatte stigmatisiert transgeschlechtliche Menschen erneut als
       vermutliche sexuelle Gewalttäter. Dabei erleben gerade sie vielfach und
       alltäglich Diskriminierung und Gewalt. Tessa Ganserer teilt die Erfahrung
       der anderen Autorinnen, nachts auf dem Weg nach Hause verfolgt und
       körperlich bedrängt zu werden. Für Tessa ist zudem die Vorstellung, wegen
       ihrer von der Norm abweichenden transgeschlechtlichen Körperlichkeit
       regelmäßig Anfeindungen zu erleben, der blanke Horror, weshalb sie wie
       viele andere trans* Personen etwa öffentliche Badeanstalten nicht besucht.
       
       Die Debatte über trans* Rechte dreht sich im Kern um die Frage, in welcher
       Gesellschaft wir leben wollen. Wir sehen argumentative Parallelen zum
       Umgang mit Geflüchteten: Wessen Ängste bekommen welchen Raum? Wer erlebt
       Schutz und Mitgefühl? Und letztlich: Wie halten wir es mit der
       gesellschaftlichen Vielfalt, auch in feministischen Räumen? Tatsächlich
       geht es um ein gemeinsames Ziel: eine Gesellschaft, in der weiße,
       cisgeschlechtliche und heterosexuelle Männer nicht mehr an der Spitze der
       Privilegien stehen. Ebenso wollen wir keine Körperideale mehr, die
       einschränken und normieren. Queere Lebensweisen eröffnen Wege aus der
       binären und hierarchisierten Geschlechterwelt.
       
       Voraussetzung dafür ist nicht nur die Fähigkeit, die Anliegen des je
       eigenen sozialen Umfelds zu formulieren, sondern es braucht auch
       selbstkritische Reflexion und gegenseitigen Respekt. Es heißt, alle
       Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Dazu muss heute
       gehören, sich nicht nur für die Gleichbehandlung von Frauen und Männern
       einzusetzen, sondern trans* Frauen als das wahrzunehmen, was sie sind:
       Frauen, und zwar gleich an Würde und Rechten wie alle Frauen.
       
       5 Nov 2020
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Kerstin Oldemeier
   DIR Tessa Ganserer
   DIR Barbara Thiessen
   DIR Anna Hajkova
       
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