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       # taz.de -- Terroranschlag in Wien: Bewährungshelfer getäuscht
       
       > In Österreich rätselt man, warum der Täter einst vorzeitig aus der Haft
       > entlassen wurde. Seinen Bewährungshelfer hatte er gekonnt getäuscht.
       
   IMG Bild: Blumen und Kerzen am Schwedenplatz, einem der Anschlagsorte in Wien
       
       Wien taz | Der Attentäter von Wien gilt weiter als Einzeltäter. Inzwischen
       wird [1][nicht nur in Österreich nach möglichen Komplizen] oder Mitwissern
       des Täters gefahndet, der am Montag in der Wiener Innenstadt vier Menschen
       erschossen hat. Auch die Schweizer Polizei nahm am Dienstag zwei Männer
       fest.
       
       Ein 18-jähriger und ein 24-jähriger Schweizer wurden in Winterthur
       ausgeforscht. Sie sollen den in der Tatnacht erschossenen Kujtim F. laut
       Schweizer Behörden „physisch gekannt“ haben. In Winterthur steht seit
       Jahren eine besonders aktive dschihadistische Szene unter Beobachtung. Von
       den nach Syrien ausgereisten IS-Sympathisanten sind einige in die Schweiz
       zurückgekehrt.
       
       Diese Kontakte blieben den österreichischen Behörden verborgen oder sie
       erschienen nicht verfolgenswert. Noch vor Ende der dreitägigen Staatstrauer
       für die vier Opfer – ein 39-jähriger Österreicher, eine 44-jährige
       Österreicherin, eine 24-jährige Deutsche und ein 21-Jähriger, der aus
       Nordmazedonien stammt – hat in Österreich das Fragen nach der Schuld
       begonnen: Wer ist dafür verantwortlich, dass der Attentäter frei
       herumlaufen, sich Waffen und Munition besorgen und seine radikale Ideologie
       pflegen konnte?
       
       Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) sprach am Dienstag in einer
       ORF-Sondersendung das Offensichtliche aus. Die Entscheidung, Kujtim F.
       vorzeitig zu entlassen, sei mit dem heutigen Wissensstand „definitiv
       falsch“ gewesen. Er sieht die Verantwortung im grün geführten
       Justizministerium, das allerdings zum fraglichen Zeitpunkt in der Hand der
       ÖVP lag. Mit seiner Schuldzuweisung beendet Kurz den politischen
       Schulterschluss gegen den Terrorismus.
       
       ## Teil eines Deradikalisierungsprogramms
       
       Kurz, der sein Jurastudium nicht abgeschlossen hat, musste sich von
       Fachleuten belehren lassen, dass die Justiz keine andere Möglichkeit hatte.
       
       Der spätere Attentäter wurde im April 2019 in Wien zu 22 Monaten Haft wegen
       Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung verurteilt. Er war von
       der türkischen Polizei im September 2018 aufgegriffen worden, als er
       versuchte, die Grenze nach Syrien zu überqueren. Nach vier Monaten Haft in
       der Türkei wurde der in Mödling bei Wien geborene 20-Jährige mit
       österreichischem und nordmazedonischem Pass nach Österreich abgeschoben.
       Die Zeit im türkischen Gefängnis und die Untersuchungshaft wurden auf die
       Strafe angerechnet.
       
       Nach den Regeln der Jugendstrafgesetzgebung wurde er nach Verbüßung von
       zwei Dritteln der Strafe entlassen. Hätte er die gesamten 22 Monate
       absitzen müssen, wäre er inzwischen auch schon frei. Durch die vorzeitige
       Entlassung auf drei Jahre Bewährung konnte er aber verpflichtet werden, an
       einem Deradikalisierungsprogramm teilzunehmen, und bekam einen
       Bewährungshelfer an die Seite gestellt.
       
       Und er verhielt sich offenbar vorbildlich. Nikolaus Rast, sein ehemaliger
       Strafverteidiger, habe es nie für möglich gehalten, dass er zum Attentäter
       würde. Sein ehemaliger Mandant sei ein orientierungsloser Jugendlicher, ein
       „harmloser Bub“ gewesen, der einen Platz im Leben gesucht habe. „Für mich
       war das ein Jugendlicher, der das Pech gehabt hat, an die falschen Freunde
       zu geraten“, so Rast in der Kronen Zeitung. Radikalisiert hat er sich in
       einer Wiener Moschee, die vom Verfassungsschutz beobachtet wird.
       
       ## Täter versuchte Munition zu kaufen
       
       Noch bei seinem letzten Termin im Deradikalisierungsverein Derad Ende
       Oktober habe der spätere Attentäter [2][die jüngsten Terroranschläge in
       Frankreich] verurteilt, sagt Franz Ruf, Generaldirektor für die Öffentliche
       Sicherheit. Andreas Zembaty vom Bewährungshilfeverein Neustart ist über die
       perfekte Täuschung erschüttert. Von den 120 seit 2006 betreuten Islamisten
       seien nur 3 Prozent rückfällig geworden.
       
       Spätestens als der Täter im Sommer versuchte, in der Slowakei Munition zu
       kaufen, müssten die Behörden in Österreich hellhörig geworden sein. Da er
       keinen Waffenschein vorweisen konnte, wurde er weggeschickt. Der
       slowakische Geheimdienst informierte das österreichische Innenministerium.
       Obwohl das Landesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung
       verpflichtet ist, die Staatsanwaltschaft „unverzüglich“ davon in Kenntnis
       zu setzen, wurde diese erst in der Tatnacht informiert. Was hier
       schiefgelaufen ist und warum, bedarf noch der Aufklärung.
       
       4 Nov 2020
       
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