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       # taz.de -- Berliner Märchentage beginnen: Erzähl doch mal!
       
       > Heute beginnen die 31. Berliner Märchentage. Das passt gut in diese Zeit,
       > wo die Grenzen zwischen Gut und Böse zunehmend verwischen.
       
   IMG Bild: Dieses Jahr nur im Internet, aber 2017 konnte man den Aufführungen auch physisch beiwohnen
       
       Berlin taz | Eigentlich könnte die Diskussion schon seit dem Jahr 1977
       beendet sein. Damals erschien das Buch des US-amerikanischen
       Psychoanalytikers österreichischer Abstammung Bruno Bettelheim „Kinder
       brauchen Märchen“. Bettelheim, der elf Monate im KZ verbringen musste,
       räumte darin mit der Aversion auf, die zumindest hierzulande im Zuge der
       68er-Bewegung gegen Märchen gepflegt wurde. Nach Bettelheim sind Märchen
       weder gewaltverherrlichend noch frauenverachtend. Sie helfen Kindern
       vielmehr, innere Konflikte zu erfassen und in der Fantasie auszuleben und
       zu lösen. Und zwar in aller Härte, ohne jede Verniedlichung. Anders gesagt:
       Kinder sind natürlich nicht immer behütet, sie haben ernste Probleme. Und
       [1][Märchen helfen ihnen] entgegen allen Vorurteilen besonders in
       Situationen, wo die Grenzen zwischen Gut und Böse verwischen.
       
       „Es ist erstaunlich, wie oft diese Vorurteile trotzdem immer noch
       auftauchen“, sagt Silke Fischer, die Leiterin der Berliner Märchentage, die
       am Donnerstag zum 31. Mal beginnen. „Sie sind im Gegenteil ausgesprochen
       hilfreich für Kinder“, setzt sie hinzu – und der Erfolg der Märchentage,
       die diesmal wegen des Coronavirus ausschließlich online stattfinden wird,
       gibt ihr recht.
       
       In keiner Stadt wären die Märchentage sinnvoller als in Berlin, das in
       Sachen [2][Kinderarmut Spitzenreiter ist]. Die Stiftung Lesen rechnet jedes
       Jahr von Neuem vor, dass die sogenannte Vorlese-Intensität vom Bildungsgrad
       der Eltern abhängt. Und dass Einkommens- und Bildungshintergrund oft
       korrelieren, ist auch kein Geheimnis. Es könnte also sogar von Vorteil
       sein, dass diesmal die Märchentage ausschließlich online stattfinden. Am
       Konzept wurde mit heißer Nadel gestrickt, trotzdem gibt es nichts, was
       fehlt: Von der Snapchat-Show bis zum Online-Game für Schuklassen ist für
       jeden noch so modernen Märchenfan etwas dabei. Das dürfte die Märchentage
       niedrigschwelliger gestalten.
       
       Aber es gibt auch noch einen zweiten Grund, warum die Märchentage wo
       wichtig wie goldrichtig sind in Berlin: In keiner anderen Stadt haben so
       viele Kinder mit unterschiedlichem kulturellen Hintergrund miteinander zu
       tun. Märchen können diesbezüglich ein toller Startknopf sein: „Sitten,
       Bräuche, klimatische Unterschiede sind in den Märchen der Welt verschieden,
       aber im Grunde haben alle Märchen auf der ganzen Welt ähnliche Themen“, so
       Silke Fischer. „Sie berichten immer von denselben Wünschen und Träumen,
       schön, gesund, wohlhabend oder glücklich zu werden.“ Anders gesagt: Schon
       der Schweizer Psychiater und Begründer der analytischen Psychologie, Carl
       Gustav Jung, beschrieb in den 1950er Jahren, dass Märchen ähnlich wie
       Träume sogenannte Archetypen verhandeln, also Grundprägungen, zu denen auch
       universelle Erfahrungen wie Geburt und Tod gehören.
       
       ## Klischees auf den Kopf gestellt
       
       Es ist also kein Wunder, dass man sich mithilfe von Märchen gleichzeitig
       über Differenzen wie Gemeinsamkeiten in den Kulturen prima verständigen
       kann. Eine der schönsten Veranstaltungsreihen der Berliner Märchentage ist
       darum auch die mit dem Titel „Frohe Botschaft“, für die sich in den
       Botschaften von Kuba bis zu den Vereinigten Arabischen Emiraten die Türen
       öffnen, um Märchen vorzustellen, mit denen man vielleicht nicht
       aufgewachsen ist.
       
       Jedes Jahr wählen die Märchentage ein anderes Motto aus, im letzten Jahr
       hieß es „überwinden Grenzen“, in diesem soll es um „Märchen vom Oben und
       Unten gehen“ – also um arm und reich, dumm und klug, traurig und froh. Es
       geht aber auch um Märchen wie „Frau Holle“, das bekannt sein mag, aber
       nicht bekannt genug. Denn gerade Frau Holle zeigt sehr schön, dass viele
       Märchen bei genauerem Hinsehen Klischees wie etwa das vom schwachen
       Geschlecht oft viel subtiler angehen als gedacht. Frau Holle geht nämlich
       vermutlich auf die Verehrung einer vorchristlichen Gottheit zurück, die die
       Elemente beherrscht. Schon die Germanen erzählten sich, dass die Sonne
       scheint, wenn sie ihr Haar kämmt, und Schnee fällt, wenn sie ihre Betten
       ausschüttelt. Die Kirche verbannte Frau Holle, die übrigens oft Frau Percha
       hieß, in den Aberglauben. Weil sie auch die Faulen bestrafte und die
       Fleißigen belohnte, gehen Philologen davon aus, dass sie eine Art
       matriarchalische Vorgängerin von Knecht Ruprecht sein könnte.
       
       Nicht nur in „Frau Holle“, sondern auch in anderen Märchen wird das Bild
       von der Prinzessin, die brav auf ihren Prinz wartet, erfrischend auf den
       Kopf gestellt – mitunter sogar in den Märchen der Brüder Grimm, in denen
       Frauen tatsächlich oft vergleichsweise biedermeierlich und brav
       daherkommen. [3][Ohne Gretel wäre Hänsel] vermutlich gestorben. In einem
       anderen Märchen findet der Vater, dass seine schöne Tochter auch noch dem
       ekelhaftesten Verehrer Dank schuldet. Sie scheißt darauf und wirft den
       Frosch an die Wand.
       
       ## Nicht den Kopf in den Sand stecken
       
       Fast noch wichtiger auch an diesen vermeintlich konventionelleren Märchen
       aber ist, dass sie immer Hoffnungsgeschichten sind, dass sie immer von der
       Überwindung von Widerständen berichten. Oft erzählen sie von schwachen
       [4][Heldinnen und Helden], die in die Welt ziehen und ihr Schicksal in die
       Hand nehmen wollen. Mädchen wie Jungen macht das Mut.
       
       Und ist besonders in diesem historischen Moment wichtig, wo viele
       Selbstverständlichkeiten plötzlich außer Kraft sind. Wir sollen uns in
       einem Monat zurückziehen, der auch ohne Corona [5][finster genug wäre]. Und
       sollen nicht den Kopf in den Sand stecken. Lasst uns also Märchen erzählen
       – und hören.
       
       5 Nov 2020
       
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