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       # taz.de -- Neues Album der Gorillaz: Mixtape einer erschöpften Gegenwart
       
       > Musik aus Zeiten der Pandemie: „Song Machine. Season One: Strange Timez“
       > heißt das bissige neue Album der virtuellen Band Gorillaz.
       
   IMG Bild: Ist ihr neues Album das bisher beste? Die virtuelle britische Band Gorillaz
       
       Kinder, wie die Zeit verstreamt: Vor genau 20 Jahren wurde die Debüt-EP der
       virtuellen Popband [1][Gorillaz] veröffentlicht: Vier Cartoon-Figuren,
       Murdoc Niccals, Russel Hobbs, Noodle und Sänger 2D (dem Britpopstar Damon
       Albarn seine Stimme lieh) stehen im Zentrum des Geschehens. Mit eingängigem
       Songs, schrägen Clips und fabulierten Backstories passten die Gorillaz
       bestens zum Start des neuen Millenniums. Es begann bekanntlich mit einem
       Bug, der dann keiner war.
       
       Den Ohrwurm lieferte dann das erfolgreiche Debütalbum „Gorillaz“ (2001) mit
       dem Smashhit „Clint Eastwood“. Zugleich wirkte die Idee wie ein
       Novelty-Gimmick, der bald auserzählt sein würde. Aus Langeweile hatten sich
       Albarn – seinerzeit Sänger der Londoner Band Blur – und Comiczeichner Jamie
       Hewlett für das außergewöhnliche Projekt zusammengetan. Trotzdem war ihre
       Idee, eine erfundene Band gibt relevantere Gegenwartskommentare ab als der
       real existierende Celebrity-Zirkus, einfach zu gut.
       
       Vorgespult um zwei Jahrzehnte – und mit „Song Machine, Season One: Strange
       Timez“ erscheint heute das beste Album der Gorillaz überhaupt; nach dem
       zurückgenommenen Vorgänger „The Now Now“ (2018) hat es wieder eine
       stattliche Gästeliste, diverse KünstlerInnen sind dabei. Die Tracks machen
       dadurch unerwartete Echoräume auf: So antwortet Rapper 6LACK in „The Pink
       Phantom“ mit sanft autogetunter Stimme einem fast lebensmüde klingenden
       Elton John, der croont „I’ll be waiting for you on the other side“.
       
       ## Grenzen sprengen
       
       In den Genregrenzen sprengenden Songs stecken Punk, Elektronik, Grime und
       HipHop. Neben zeitgenössischen Sounds aus Südafrika, wie sie die Künstlerin
       Sanelisiwe Twisha alias Moonchild Sanelly in das düster schleppende, aber
       elastische „With Love to an Ex“ einbringt, stehen geschichtsträchtige
       Zitate: etwa der melancholische Optimismus von New Order; Peter Hook,
       ehemals Bassist der Band, hinterlässt in „Aries“ markante Spuren.
       
       Nur, dieser große Wurf von einem Popalbum will eigentlich gar keines sein.
       Im Januar, als mit „Momentary Bliss“ das erste Stück veröffentlicht war,
       verglich Albarn der BBC gegenüber den neuen Modus Operandi der Gorillaz mit
       der Realisierung einer [2][TV-Serie]: „Wir sind nicht mehr darauf
       beschränkt, Alben zu machen. Stattdessen bringen wir Episoden und Staffeln
       raus.“ Seither sind alle paar Wochen Häppchen – neue Songs mitsamt
       zugehörigen Videoclips – erschienen.
       
       Ausnahme ist der soghafte Song „How Far?“ mit dem Rapper Skepta und der
       Afrobeat-Legende [3][Tony Allen] am Schlagzeug. Mit Letzterem hatte Albarn
       immer wieder gearbeitet, unter anderem im Bandprojekt [4][The Good, the Bad
       & the Queen]. Nach Allens Tod im April erschien der Track nur mit einem
       Foto des 79-jährigen Schlagzeugers; die ins Bild gezeichneten
       Bandmitglieder zollten Tribut, jeder auf seine Weise: 2D mit gebrochenen
       Herz-Emojis, Murdoc mit erhobenem Glas.
       
       ## Bündelung schafft Synergien
       
       „Song Machine“ bringt nun die sieben bislang veröffentlichten mit weiteren
       neuen Songs zusammen. Die Bündelung schafft Synergien, die elf Tracks (die
       empfehlenswerte Deluxe-Edition umfasst sechs weitere) klingen wie ein gutes
       Mixtape aus einer erschöpften Gegenwart. Anders als bei manchen der
       nervösen Vorgänger lässt das Kaleidoskop an Einflüssen diesmal kein
       diffuses Einerlei entstehen.
       
       Vielleicht Ergebnis des gestaffelten Veröffentlichungsmodus. Eine andere
       Erklärung wäre, dass Albarn, den man sich eher als Machertypen mit kurzer
       Aufmerksamkeitsspanne denn als detailverliebten Produzenten vorstellen
       muss, im Lockdown mehr Zeit für die Arrangements hatte. Diesmal nehmen fast
       alle Tracks einen jeweils eigenen Charakter an; und die Gäste tragen
       Idiosynkratisches dazu bei.
       
       Das Album ist zugleich auch eine Art Tagebuch der bisherigen Phasen von
       Corona. Cruiste Albarn im Clip zum sehnsuchtsvollen „Désolé“ im Februar
       noch mit der malischen Songwriterin Fatoumata Diawara dolce-vita-mäßig über
       den Comer See, entstand „Strange Timez“, veröffentlicht im September, per
       Mailaustausch mit Cure-Sänger Robert Smith. Dessen gramgebeugt klingende
       Stimme erdet die unruhigen Sounds. Der Songtext erzählt derweil von einer
       „Surgical glove world/Bleach-thirsty world“. Im Clip ist Smiths Gesicht auf
       den Mond projiziert; entrückt und besorgt schaut er zurück zur Erde.
       
       ## Abstrakte Assoziationen
       
       Was könnte besser in eine instabile Welt passen als eine Band, die sich wie
       die Gorillaz problemlos in neue Zusammenhänge stellen lässt und so nicht
       zuletzt auch Zeitgeist-Seismograf ist? Der Spaß am postmodernen Zitatspiel,
       der Anfangs durchblitzte, hatte sich bei den Gorillaz bald erschöpft;
       Dystopisches rückte immer stärker in den Vordergrund. Gleichzeitig hielten
       Albarn und Hewlett die Assoziationen gerne abstrakt. Zwischendurch sah der
       Comicautor seinen illustratorischen Input angesichts der immer
       eindrucksvolleren Allstar-Produktionen in der Regie von Albarn zu sehr in
       den Hintergrund gedrängt.
       
       In der Frühphase der Arbeit an „Humanz“ (2016) hatte man sich einem
       durchgeknallt anmutenden Gedankenspiel hingegeben: Was, wenn dieser bizarre
       Präsidentschaftskandidat Trump die Wahl gewinnen würde? Als die Realität
       jedes noch so abgründige Szenario in den Schatten gestellt hatte, editierte
       Albarn allzu deutliche Referenzen aus der Musik heraus.
       
       Auch „Song Machine“ klingt im guten Sinne unentschieden. Einige Songs haben
       etwas Tröstliches, in dem sie unterschiedlichste Gefühlsregister aufrufen;
       Abgründe beschränken sich nicht nur auf die Textebene, sondern sickern in
       die Klangpalette mit ein. Nicht zuletzt ist das neue Album aber auch ein
       Plädoyer für Kommunikation entlang nicht ausgelatschter Pfade. In diesem
       Spannungsfeld liefern die Gorillaz tatsächlich mal wieder einen
       gegenwartsrelevanten Kommentar zur Zeit.
       
       22 Oct 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Neues-Album-der-Gorillaz/!5405064/
   DIR [2] https://www.youtube.com/watch?v=1mhWzjgbLO0
   DIR [3] /Nachruf-auf-Afrobeat-Legende-Tony-Allen/!5682565/
   DIR [4] /The-Good-The-Bad--The-Queen/!5550984/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Stephanie Grimm
       
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