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       # taz.de -- Hausprojekt-Räumung in Berlin: „Idee der Liebig34 lebt weiter“
       
       > Vor gut zwei Wochen wurde das Flint*-Hausprojekt von der Polizei geräumt.
       > Was ist aus den Bewohner*innen geworden? Ein Treffen in Friedrichshain
       
   IMG Bild: Ein Symbol für die linke Szene: Die Liebig34 zwei Tage vor der Räumung
       
       Berlin taz | Das Haus in der Liebigstraße 34 ist nicht mehr dasselbe wie
       noch vor gut zwei Wochen. Die meterlangen Transparente sind weg, die bunten
       Plakate auch; die mit Graffiti besprühte Fassade ist voller Ruß. Auch die
       Eisenstangen vor den Fenstern und der Stacheldraht auf den Balkonen wurden
       entfernt. Aus verschiedenen Etagen hört man es hämmern, sägen, rumpeln und
       scheppern. Die Renovierungsarbeiten sind in vollem Gange.
       
       Am Morgen des 9. Oktober wurde das [1][linke Hausprojekt Liebig34 in
       Friedrichshain geräumt]. Vergangenen Mittwoch, zehn Tage später, brach vor
       dem Gebäude ein Feuer aus. Der Staatsschutz ermittelt wegen schwerer
       Brandstiftung.
       
       Emma, 30, und Lena, 29, sind ehemalige Bewohner*innen des Hauses. Zwei Tage
       vor dem Brand sitzen sie auf einer Bank auf dem Boxhagener Platz. Beide
       wollen ihre Nachnamen nicht in der Zeitung lesen. Emma trägt braunes kurz
       rasiertes Haar, Lena eine schwarze Lonsdale-Jacke und eine silberne
       Metallbrille. Ihre blonden Haare hat sie unter einer Mütze versteckt. „Wir
       haben mit der Räumung ein kollektives Trauma erlebt“, sagt Lena. Drei Jahre
       hat sie in der Liebig34 gewohnt, Emma die vergangenen sechs Monate.
       
       Dass die beiden mit Medienvertreter*innen reden, ist nicht
       selbstverständlich. Zwar erklären sie, sie und die anderen Bewohner*innen
       hätten „schon immer mit der Presse gesprochen“. Doch das war in der
       Vergangenheit nicht der Fall: Wenige Tage vor der Räumung etwa hat Lena
       noch ein Gespräch mit der taz abgelehnt. Manchmal fehlte ihnen die Zeit,
       oder es lag an einer bestimmten Reporter*in, begründet Lena das nun.
       
       Emma und Lena sind zwei redselige Frauen. Sie lächeln oft, zeigen
       Verständnis, wenn man die Frage vergisst, die man gerade stellen wollte,
       und bieten an, sie nachträglich per Mail zu schicken, sobald sie einem
       wieder eingefallen ist. Am Ende bedanken sie sich mehrmals für das
       Gespräch.
       
       Viele Leute haben den Bewohner*innen vorgeworfen, sie hätten sich in der
       Liebig verschanzt. „Das haben wir auch ein Stück weit – um uns zu vor
       Diskriminierung zu schützen“, sagt Lena. Und dann: „Wir wollen – auch wenn
       es in der Vergangenheit nicht unbedingt geklappt hat – raus aus der
       Filterblase und mit Leuten darüber ins Gespräch kommen, wofür wir
       eigentlich stehen.“
       
       Die Liebig34 diente Flint*Personen als „Safespace“, als ein geschützer Ort,
       wie Lena und Emma erklären. Der Begriff Flint* schließt alle Personen ein,
       die im Patriarchat diskriminiert werden: Frauen, Lesben, Intersexuelle,
       Nichtbinäre, Transpersonen. 1990 wurde das Haus besetzt, so wie mehr als
       hundert weitere Gebäude in der Stadt.
       
       Die Liebig34 war eines der wenigen Häuser, die noch aus dieser Phase übrig
       geblieben sind, und international bekannt. „Wir haben
       Solidaritätsbekundungen von überall auf der Welt bekommen, etwa aus den USA
       und Griechenland“, sagt Emma. „Die Liebig ist ein Begriff geworden, der
       größer ist als das Haus selbst.“
       
       57 Personen hielten sich am Tag der Räumung in dem Eckhaus auf. Manche von
       ihnen hätten mehr als zehn Jahre dort gewohnt, berichtet Lena. Zum harten
       Kern des „anarcha-queer-feministischen“ Kollektivs gehören Lena zufolge
       jedoch nur 30 Menschen.
       
       Als man die beiden auf die Barrikaden wie die Falltür im Haus anspricht,
       kichern sie. „Die Barrikaden sind über Jahre hinweg entstanden. Wir wollten
       nicht kampflos gehen“, sagt Lena.
       
       Ihr und den Bewohner*innen war bewusst, dass das Haus an diesem Tag wohl
       geräumt wird. „Gleichzeitig haben wir bis zum Schluss gehofft, dass der
       Widerstand groß genug ist und die Räumung verhindert wird“, sagt Lena. So
       richtig groß fiel der Widerstand dann aber nicht aus. Es blieb
       verhältnismäßig ruhig am Tag X. Rund um die Rigaer Straße lagen
       überschaubare Barrikaden, vereinzelt flogen Flaschen, es kam zu kleineren
       Rangeleien zwischen Linken und Polizist*innen.
       
       Knapp 1.000 Menschen nahmen an der Demo für das Hausprojekt teil – damit
       waren die Demonstrierenden in der Unterzahl. „Ein bisschen enttäuscht waren
       wir schon, als wir die Zahl der Teilnehmer*innen gehört haben. Bei der
       Räumung der Liebig14 vor neun Jahren waren mehr Leute dabei“, sagt Lena.
       „Andererseits dürfen wir nicht nur auf die Demo gucken – wir haben ja zu
       dezentralen Aktionen aufgerufen.“ Damit meint sie zum Beispiel den
       Brandanschlag auf einen Kabelkasten in der Nähe des S-Bahnhofs Frankfurter
       Allee oder die brennenden Autos und Müllcontainer in der Stadt.
       
       Bei der Räumung der Liebig34 waren 1.500 Polizist*innen im Einsatz. Um sich
       Zugang zum verbarrikadierten Haus zu verschaffen, werkelten Beamt*innen mit
       Flex, Brecheisen und einer Kettensäge an den Eingängen herum. „Das war ein
       Akt patriarchaler Gewalt“, sagt Emma. „Zu sehen, wie männliche Polizisten
       in unser Zuhause eindringen – einen Ort ohne Cis-Männer –, und die dann
       auch noch sexistische Sprüche kloppen: Das war nur schwer zu ertragen.“
       
       Nach der Räumung führte der Pressesprecher der Berliner Polizei [2][eine
       Gruppe von Journalist*innen] durch das vierstöckige Haus. Später
       veröffentlichten sie Fotos aus Küchen und Schlafzimmern, einige berichteten
       von „Dreck“ und „Unrat“. Emma sagt dazu: „Die Journalist*innen haben wie
       Geier draußen gewartet, um uns dann den Leuten zum Fraß vorzuwerfen.“
       Anzeige gegen die Polizei wolle das Kollektiv aber nicht erstatten. Lena
       wirft ein: „Wir leben in einem kapitalistischen Patriarchat, und dass das
       Patriarchat solche Machtmechanismen einsetzt, wundert nicht.“
       
       Sätze wie diese sagen Lena und Emma häufig. In jede Antwort bauen sie
       politische Phrasen ein. Je länger das Gespräch dauert, desto beeindruckter
       ist man davon, wie präzise sich die beiden ausdrücken, wie wortgewandt sie
       sind. Immer wieder wettern sie gegen den Kapitalismus, gegen die Berliner
       Wohnpolitik, gegen Investor*innen, „die mit der Stadt Monopoly spielen“.
       Und natürlich gegen Gijora Padovicz, den Eigentümer des Hauses Liebigstraße
       34.
       
       2008 schloss er mit den damaligen Bewohner*innen einen Pachtvertrag über
       zehn Jahre ab. Als dieser auslief, klagte Padovicz auf Räumung – und bekam
       recht. Zum Eigentümer habe das Kollektiv schon lange keinen Kontakt mehr
       gehabt, wie die beiden erzählen. „Padovicz ist ein Teil kapitalistischer
       Verwertungslogik“, sagt Lena. Wieder so eine Phrase.
       
       Was mit dem Haus in der Liebigstraße 34 passieren soll, ist bisher nicht
       bekannt. Auf die Anfrage der taz reagierte der Eigentümer nicht. Und wie
       geht es für die ehemaligen Bewohner*innen weiter? „Wir treffen uns nach wie
       vor. Wir waren ja nicht nur Mitbewohner*innen, sondern auch Freund*innen“,
       sagt Lena. Die „Küfa“, die Küche für alle, werde es weiterhin freitags in
       der Rigaer Straße geben. Andere Veranstaltungen seien in Planung, sagt
       Lena. Emma fügt hinzu: „Unsere Ziele sind ja nicht weg, nur weil das Haus
       weg ist. Die Idee der Liebig34 lebt weiter. Und vielleicht ist sie umso
       gefährlicher für das Patriarchat, wenn sie auf der Straße ist.“
       
       ## Anarchisch und solidarisch
       
       Die Idee der Liebig34? „Wir wollen anarchisch und solidarisch miteinander
       leben“, sagt Emma. Sie träumt von einem Berlin, in dem sie einen Park
       selbst bepflanzen oder sich mit einem Tisch und einer Kanne Kaffee auf die
       Straße setzen kann, ohne dass dies als Ordnungswidrigkeit gilt.
       
       Wo sich die ehemaligen Bewohner*innen treffen, was sie besprechen und wie
       sie ihre Ziele umsetzen wollen, das erzählen Lena und Emma nicht. Fürs
       Erste seien alle irgendwo untergekommen. „Freund*innen, Nachbar*innen,
       sogar Fremde haben uns Schlafplätze angeboten“, sagt Lena. Sie selbst
       übernachtet derzeit bei Freund*innen in Friedrichshain, Emma hat ein Zimmer
       gefunden. „Manche von uns wechseln aber noch von Couch zu Couch und haben
       noch nichts Langfristiges“, sagt Lena.
       
       Ob sie wieder alle zusammen irgendwo wohnen möchten? „Das wäre natürlich
       schön. Aber der Wohnungsmarkt in Berlin lässt das einfach nicht zu“, sagt
       Emma. Dann schimpft sie wieder über die Mietpreise und die Gentrifizierung.
       
       Fest steht: „Wir werden nicht versuchen, ein Haus mit einer Genossenschaft
       zu kaufen, so wie es die Mieter*innen der Lausitzer Straße 10 und 11 in
       Kreuzberg gerade probieren“, sagt Lena. Wieso nicht? „Weil das nicht die
       Lösung ist“, sagt Emma. „Wir wollen uns nicht dem Kapitalismus anbiedern
       und uns mit allerletzter Kraft ein Stück Stadt safen. Alle anderen
       Berliner*innen würden ja trotzdem verdrängt.“
       
       Emma und Lena betonen während des einstündigen Gesprächs mehrmals, wie sehr
       sie den Kiez vermissen. „Wir sind mit vielen Leuten aus dem Viertel eng
       befreudet“, sagt Lena. Auch mehr als zwei Wochen nach der Räumung hängen
       dort noch Transparente und Plakate an Häusern, auf denen Slogans stehen wie
       „Padovicz enteignen“ oder „L34 bleibt“. Wenn Lena über die Liebig34
       spricht, wirkt es fast so, als redete sie über einen geliebten Menschen.
       „Wie klein und süß und schutzlos ausgeliefert du jetzt an dieser Ecke
       bist“, sagt Lena zum Beispiel.
       
       Die meisten Bewohner*innen hätten den Nordkiez seit der Räumung nicht mehr
       betreten, sagt Lena. Sie selbst musste einmal dorthin. Die Liebig34 konnte
       sie aber nicht anschauen. „Das hätte mir zu wehgetan“, sagt Lena.
       
       25 Oct 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Hausprojekt-Liebig-34-in-Berlin/!5719147
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       ## AUTOREN
       
   DIR Rieke Wiemann
       
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