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       # taz.de -- Sinn und Unsinn von Gefängnissen: Ein schlechter Ort
       
       > Hamburg baut ein neues Jugendgefängnis und setzt auf totgeglaubte
       > Konzepte der Überwachung und Kontrolle. Dabei ginge es womöglich auch
       > ohne Knäste.
       
   IMG Bild: Verzichtbar? Blick aus dem Gefängnisfenster
       
       Hamburg taz | Hamburg will ein [1][Jugendgefängnis bauen], im Stadtteil
       Billwerder, weit im Osten der Stadt, direkt neben dem Gefängnis für
       Erwachsene. „Deutschlands modernste Jugendanstalt“ soll es werden, aber
       tatsächlich ist dort genau das nicht geplant, was heute als moderner
       Jugendstrafvollzug gilt:
       
       Statt [2][einem „Dorf-Modell“ zu folgen], das auf offene
       Kommunikationsformen, Möglichkeiten für körperliche Bewegung und eine Nähe
       zur Natur setzt, sei die Bauplanung extrem verdichtet, kritisierten sieben
       Mitglieder des Beirats Justizvollzug in einem Schreiben an Justizsenator
       Till Steffen (Grüne). Weil das Gebot der Gewaltprävention bei der Planung
       im Vordergrund gestanden habe, könnten „die Ziele eines modernen
       Jugendvollzugs“ gar nicht erreicht werden.
       
       Aber können Knäste überhaupt auf der Höhe der Zeit sein? Warum scheint es
       so selbstverständlich, dass Menschen eingesperrt werden müssen, um sie zum
       „Leben ohne Straftaten“ in „sozialer Verantwortung“ zu befähigen, [3][wie
       es im Strafvollzugsgesetz heißt]? Geht es nicht ohne die Institution
       Gefängnis? Ist Haft ein angemessenes Mittel der Bestrafung? [4][Und sollen
       und dürfen wir überhaupt strafen?]
       
       Knäste komplett abzuschaffen, die [5][Gesellschaft zu entknasten], gilt den
       meisten als unseriöse, ideologische, gefährliche oder wenigstens naive
       Idee. Der [6][Abolitionismus], der sich, vor allem aus Skandinavien
       kommend, seit Ende der 1960er-Jahre dafür einsetzt, den Freiheitsentzug als
       Strafe aufzugeben, wird schnell als Bewegung einiger verrückter Linker
       abgetan.
       
       Dabei lässt die Forderung sich mit guten, wissenschaftlich fundierten
       Argumenten begründen. Zwei der Vordenker einer solchen Kriminologie kommen
       aus dem Norden: In Bremen setzt sich der Kriminologe und Rechtssoziologe
       [7][Johannes Fees]t schon lange für die Abschaffung der Freiheitsstrafe
       ein, in Hamburg der Kriminologe und Soziologe [8][Sebastian Scheerer].
       
       ## Knäste bringen es nicht
       
       So gefährlich und radikal sieht die Idee der Entknastung auf den zweiten
       Blick auch gar nicht aus: Die Ziele der Freiheitsstrafe – die Interessen
       der Opfer von Kriminalität zu berücksichtigen, die öffentliche Sicherheit
       zu garantieren und die Betroffenen zu resozialisieren – müssen nicht als
       illegitim angegriffen werden. Sie ließen sich, so die These, in einer Welt
       ohne oder wenigstens mit sehr viel weniger Gefängnissen viel besser
       erreichen.
       
       Am stärksten wiegt dabei das Argument, dass Gefängnisse die ihnen
       zugeschriebene Aufgabe, nämlich Gefangene zu resozialisieren und
       Kriminalität zu reduzieren, gar nicht leisten. Bislang konnte nicht eine
       einzige Studie belegen, dass das Einsperren von Straftäter:innen eine
       bessernde Wirkung auf sie hat.
       
       Im Gegenteil: Gefängnisse produzieren Gewalt und hohe Rückfallquoten. Auch
       die Abschreckungswirkung ist viel geringer als oft angenommen. Und um
       Gefangene zu sichern, wären Knäste schlicht nicht nötig.
       
       Die Freiheitsstrafe bestraft übermäßig, sie verletzt die Würde der
       Insassen, weil sie nicht nur die Freiheit entzieht, sondern die Insassen
       einem weitreichenden Anstaltsregime unterwirft und Menschenrechte
       beschneidet. Menschen werden zur Arbeit gezwungen, zur Armut und zur
       Enthaltsamkeit; unbeteiligte Dritte wie Familienangehörige werden
       mitbestraft.
       
       ## „Wiederherstellende Gerechtigkeit“ statt Strafrecht
       
       Eine „[9][negative Kriminalpolitik]“ sieht den Ausweg aus dem Knast-Dilemma
       deshalb nicht im Neubau von Gefängnissen und der Verbesserung von Haft- und
       Behandlungsmethoden, sondern stellt die Frage, ob der gesellschaftliche
       Umgang mit Kriminalität und anderen Formen der Abweichung nicht gänzlich
       auf das Strafrecht verzichten kann – oder ob strafrechtliche Sanktionen
       nicht wenigstens durch andere Formen sozialer Kontrolle ergänzt werden
       können.
       
       Die Frage wäre also gar nicht, ob wir Gefängnisse abschaffen müssen,
       sondern wie wir es schaffen. Eine Möglichkeit wäre die Stärkung von
       Verfahren der [10][Restorative Justice], einer „wiederherstellenden
       Gerechtigkeit“, die Konflikte durch Wiedergutmachung materieller und
       immaterieller Schäden löst, auch unter Einbeziehung der jeweiligen
       Gemeinschaft.
       
       Statt der Verletzung von Gesetzen stünde die Verletzung von Menschen im
       Mittelpunkt und die Suche nach Wegen, den sozialen Frieden
       wiederherzustellen. Das sorgt auch bei Täter:innen besser als Gefängnisse
       für die Einsicht, etwas Falsches getan zu haben. Und befördert den Wunsch,
       es in Zukunft besser zu machen.
       
       Mehr lesen Sie in der gedruckten taz am wochenende – oder [11][hier]
       
       7 Nov 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Debatte-um-neues-Gefaengnis-in-Hamburg/!5717761
   DIR [2] /!5603984
   DIR [3] https://www.gesetze-im-internet.de/stvollzg/BJNR005810976.html
   DIR [4] https://www.kriminologie.uni-hamburg.de/wiki/index.php/Punitivit%C3%A4t
   DIR [5] https://entknastung.org/
   DIR [6] http://www.krimj.de/index.php/de/home-alt/14-aktuelle-ausgabe/56-ausgabe-nr-3-2016
   DIR [7] /Die-Knast-Reform/!5033749/
   DIR [8] https://sites.google.com/view/hinterdenmauern/veranstaltungsmitschnitte
   DIR [9] https://books.google.de/books?id=czg8DwAAQBAJ&pg=PA325&lpg=PA325&dq=%22negative+Kriminalpolitik%22&source=bl&ots=fXzZ3lVMJH&sig=ACfU3U2MA2aaUdF3OfOiXCHM5RCWRvoZCg&hl=de&sa=X&ved=2ahUKEwjckOyype7sAhXiJMUKHUnMCZMQ6AEwCHoECAoQAg#v=onepage&q=%22negative%20Kriminalpolitik%22&f=false
   DIR [10] https://homepage.univie.ac.at/nicole.lieger/strff/cp3el.pdf
   DIR [11] /e-kiosk/!114771/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Robert Matthies
       
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