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       # taz.de -- Über Leiden sprechen: Spaß ist nur die halbe Geschichte
       
       > Die Krise erlaubt als Outlet nur Positive Thinking. Dabei können
       > gesellschaftliche Problem nur gelöst werden, wenn man sie auch laut
       > äußert.
       
   IMG Bild: Queeres öffentliches Auftreten strahlt meist Lust und Selbstbewusstsein aus
       
       Nehmen wir an, die Coronakrise könnte man sehen und anfassen. Nicht das
       Virus an sich, das würde auch einiges erleichtern, aber ich meine etwas
       anderes: die Krise insgesamt. Sämtliche abstrakten, [1][kurz- oder
       langfristigen Auswirkungen] würden an uns kleben? Dann würde man vielleicht
       zueinander sagen: „Oh nein, du hast ja ganz schön viel Krise an dir, das
       tut mir leid.“ Und vielleicht auch: „Bei mir geht’s heute. Nur bisschen
       hinter den Ohren – also sag gern, wenn ich helfen kann!“
       
       Oder nehmen wir an, [2][Homo- und Transphobie] wären kein abstraktes
       Aggregat aus Vorurteilen, Gesetzen und unglücklich gewählten
       Formulierungen, sondern sichtbar und greifbar. Dann wäre es für hetero und
       cis Menschen nicht so leicht, sie immer wieder zu vergessen.
       
       Es ist so aber nicht. Wir sehen – zum Glück – in diesen Breiten selten
       eindeutig erkennbares Leid von queeren Menschen. Nicht die Art von Leiden,
       mit dem man auf Brot-für-die-Welt-Plakaten arbeiten kann. Dieses äußerliche
       Elend, das Mitleid erzeugt. Homo- und Transphobie macht Leiden im Körper,
       in der Psyche, im privaten Bereich. Queeres öffentliches Auftreten dagegen
       ist „Pride“: Lust, Selbstbewusstsein, Trotz. Und es stimmt ja, queer sein
       macht Spaß, aber das ist nur die halbe Geschichte. Nur hat niemand Bock
       darauf, queeren Schmerz in Paraden vorzuführen. Zu sehr gehört das
       definierte Leiden, die „Pathologisierung“, zur queeren Geschichte.
       
       Leiden solle bitte privat bleiben 
       
       Und zu oft ist von „Opferhaltung“ und „Lust am Leiden“ die Rede, als dass
       sich aussprechen ließe: „Hey, ich leide, und ich sag euch auch, warum.“
       Stattdessen werden wir mit Vorbildern beworfen. „EILT: Die erste [Adjektiv]
       Minister*in/ Moderator*in/ Serienfigur!“ Das ist wichtig, aber es heilt
       nicht. Denn diese „Ersten“ können ja auch nicht sagen, wenn es ihnen
       scheiße geht. Sie performen Erfolg und passen höllisch auf, dass sie es den
       „Zweiten“ nicht versauen.
       
       Es wird oft behauptet, dass Sprechen über Leiden dasselbe sei wie Leiden zu
       „genießen“. Daraus klingt der Wunsch, dass Leiden bitte privat bleiben
       soll. Aber gesellschaftliche Probleme können nicht privat gelöst werden.
       Doch wer Leiden anführt, muss sich vorwerfen lassen, erpresst zu haben.
       Klar, das liegt daran, dass man Leiden nicht messen kann, dass es subjektiv
       ist und erfunden sein könnte. Aber „Sorgen“ kann man auch nicht messen, und
       trotzdem heißt es immer wieder, wir mögen die „Sorgen der Menschen ernst
       nehmen“. Da geht es aber nie um alle Menschen. Die einen sorgen sich laut,
       die andern leiden still.
       
       Gerade erleben wir, queer oder nicht, wie sehr es nervt, wenn man nicht
       offiziell leiden kann. Die Krise erlaubt als Outlet nur Positive Thinking
       oder Aggression gegen Phantasmen. Schön wäre, wenn wir lernten, dass Leiden
       und Betroffenheit Quellen sind für Wissen und Ressourcen für Fortschritt.
       Wenn „Opfer“ kein Schimpfwort wäre, sondern bloß Teil der komplexen
       Geschichte einer*eines jeden.
       
       13 Nov 2020
       
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