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       # taz.de -- Saubere Energie durch Wasserstoff: Der Stoff, aus dem die Träume sind
       
       > Mit der „Wasserstoffstrategie“ will die Bundesregierung die Energiewende
       > voranbringen. Aber vorher müssen noch eine Menge Probleme gelöst werden.
       
   IMG Bild: Wasserstoff ist das häufigste chemische Element im Universum – aber nicht in der Erdrinde
       
       Es gab ein halbes Jahr Verspätung, viele verschiedene Entwürfe und jede
       Menge Hin und Her, vor allem zwischen den Ministerien für Forschung,
       Wirtschaft, Umwelt und Verkehr – aber dann konnte die Bundesregierung im
       Juni endlich ihre groß angekündigte „Nationale Wasserstoffstrategie“
       vorstellen.
       
       Beim „Erdöl der Zukunft“ werde Deutschland „zu einem globalen Vorreiter“,
       versprach CDU-Forschungsministerin Anja Karliczek, und „langfristig die
       Weltmarktführerschaft bei Wasserstofftechnologien […] erlangen und
       sichern“. Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) erklärte, man werde
       „eine Vorreiterrolle einnehmen, wie wir es vor 20 Jahren mit der Förderung
       der erneuerbaren Energien getan haben“. Und SPD-Umweltministerin Svenja
       Schulze lobte den „doppelten Schub“ für Klimaschutz und die wirtschaftliche
       Erholung nach Corona.
       
       Erdöl der Zukunft, Weltmarktführer, Vorreiter – kein Versprechen ist zu
       groß, wenn es darum geht, wie eine grüne Energieversorgung der Welt
       aussehen und wer an ihr verdienen könnte: H2 ist der Wasserstoff, aus dem
       diese Träume sind. Deutschland als Mutterland der Energiewende will im
       globalen Poker ein wichtiges Wort mitreden, und die „nationale Strategie“
       dazu wird von Industrie, Politik, Wissenschaft und auch Umweltverbänden
       vorsichtig goutiert.
       
       Inzwischen vergeht kaum eine Woche, in der das Thema Wasserstoff nicht auf
       der Agenda steht: Lobbyorganisationen bringen sich in Stellung, der
       „Innovationsbeauftragte Grüner Wasserstoff“ der Bundesregierung informiert.
       Am vergangenen Montag debattierte dazu der Wirtschaftsausschuss des
       Bundestages, im November befasst sich damit der „Energiewende-Kongress“ der
       staatlichen Deutschen Energie-Agentur (dena). Mit insgesamt 9 Milliarden
       Euro Regierungshilfen und neuen Regeln und Gesetzen will die Regierung das
       Vorhaben voranbringen. Allerdings sind wichtige technische und
       energiepolitische Fragen noch ungelöst.
       
       Aber erst einmal hat Deutschland eine Strategie und im Rahmen des 130
       Milliarden Euro Konjunkturprogramms für die Wirtschaft in der Coronakrise
       eine Menge Geld. Um einen „starken Heimatmarkt“ zu schaffen, will die
       Regierung Produktion und Verbrauch von „grünem“ Wasserstoff, der mit
       Ökostrom erzeugt wird, ankurbeln. Bis 2030 will sie den Bau von großen
       H2-Fabriken, den Elektrolyseuren, mit der Kapazität von 5 Gigawatt
       unterstützen, bis 2040 sollen es 10 Gigawatt sein. Vorangehen soll es auch
       beim Aufbau von Zulieferbetrieben, von H2-Infrastruktur wie Tankstellen,
       Pipelines und Forschung.
       
       Grünstrom aus Solar- und Windanlagen soll H2 zu einem sauberen
       „Schlüsselelement der Energiewende“ machen, das verspricht der
       Regierungsplan. Das Schöne an der Technik? Alle finden an ihr etwas, das
       sie lieben. Union und Industrie sehen die Chancen für Export und
       Innovation, die SPD und die Gewerkschaften hoffen auf neue saubere Jobs,
       die Umweltschützer freuen sich auf Energie ohne schädliche CO2-Emissionen.
       
       Bisher wird allerdings nur sehr wenig Wasserstoff in Deutschland erzeugt,
       die Pläne der Regierung würden die Kapazität bis 2030 verhundertfachen. Und
       um bis 2050 praktisch alle Prozesse mit grünem Wasserstoff zu befeuern,
       müsste sich der Verbrauch des Öko-Speichermediums von jetzt etwa 5 auf 600
       Terawattstunden steigern.
       
       Die Strategie sieht den Einsatz von Wasserstoff vor allem in der Chemie-
       und Stahlindustrie vor, um fossile Brennstoffe zu ersetzen. Aber auch Züge,
       die bislang mit Dieselloks fahren, Lkw und Flugzeuge brauchen für die
       geplante „Klimaneutralität“ dringend CO2-freien Treibstoff, den H2-Produkte
       als Gas oder Flüssigkeit liefern können. Für Autos und Heizungen in
       Gebäuden gelten dagegen elektrische Lösungen wie E-Antrieb und Wärmepumpen
       als effizienter.
       
       Das Tauziehen zwischen den Ministerien um die H2-Strategie endete mit
       Kompromissen: Forschung und Umwelt setzten durch, dass nur Wasserstoff aus
       Ökostrom und nicht etwa auch aus Erdgas gefördert werden soll – und das
       Wirtschaftsministerium, dass bis 2030 nur 5 und nicht 10 Gigawatt erreicht
       werden sollen. Ein Ausschuss der zuständigen Staatssekretäre soll die
       Arbeit koordinieren, ein „nationaler Wasserstoffrat“ mit 26 VertreterInnen
       aus Forschung, Wirtschaft und Verbänden soll sie beraten. Umweltministerin
       Schulze mahnte: „Wer Ja sagt zu Wasserstoff, muss auch Ja sagen zur
       Windenergie.“
       
       Das ist ein Seitenhieb gegen die Union, die lange den Ausbau der
       erneuerbaren Energien gebremst hat. Denn Öko-Wasserstoff braucht Öko-Strom.
       Die jetzigen Pläne für 5 Gigawatt H2-Leistung würden bedeuten, dass das
       schon jetzt schwer erreichbare Ausbauziel von 65 Prozent Grünstrom in 2030
       auf etwa 68 Prozent anwächst, kalkuliert Jochen Bard, Experte vom
       Fraunhofer Institut für Energiewirtschaft. Bis 2030 müssten etwa 1.000
       Windräder zusätzlich gebaut werden: „Der entscheidende Hebel ist der zügige
       Ausbau der Erneuerbaren, da haben wir großen Nachholbedarf.“
       
       Die Strategie sieht auch vor, dass große Mengen – 2050 bis zu 80 Prozent
       des deutschen Bedarfs – importiert werden müssten. Das könnte entweder aus
       EU-Staaten passieren, die Wind offshore zu H2 umwandeln oder aus Staaten
       etwa in Nordafrika. Für Marokko gibt es schon Pläne.
       
       Kurz nach den Deutschen legte dann auch die EU-Kommission ihre Pläne für
       den Ausbau der Wasserstoffinfrastruktur vor. Seit Monaten hatte der
       Lobbyverband Hydrogen Europe dafür getrommelt. Auch die Brüsseler Behörde
       setzt sich große Ziele: Sie spricht von 40 Gigawatt Elektrolyseleistung bis
       2040 und noch einmal 40 Gigawatt Importware. Gebraucht würden dafür
       schätzungsweise 80 bis 120 Gigawatt zusätzliche Wind- und Solarfarmen
       (derzeit gibt es in der EU davon insgesamt etwa 330 Gigawatt), zu Kosten
       von etwa 20 bis 35 Milliarden Euro jährlich.
       
       „Da wird mit sehr großen Zahlen hantiert“, sagt Matthias Deutsch vom
       Thinktank Agora Energiewende. Dabei sei bisher kaum transparent, wo genau
       bei den deutschen Plänen welches Geld fließen solle und wie zum Beispiel
       die H2-Infrastruktur der Zukunft aussehen solle. Die Bundesnetzagentur
       berät, wie die jetzigen Gaspipelines eventuell auch für Wasserstoff zu
       nutzen oder umzurüsten sind. Allerdings fehlt dafür noch ein Gesetz.
       
       Bevor die schöne neue Energiezukunft weltweit beginnen kann, müssen
       allerdings noch große Hürden überwunden werden: Akzeptieren Deutschland und
       die EU auch Wasserstoff, der nicht mit Grünstrom, sondern mit Gas oder
       Atomkraft erzeugt wird? Liefern mögliche H2-Anlagen in Nordafrika oder
       Russland nach Europa oder versorgen sie auch die eigene Bevölkerung? Läuft
       der Transport über Pipelines oder über Tankschiffe?
       
       Und auch: Macht sich Europa mit dem Import von Wasserstoff von instabilen
       Regionen und zwielichtigen Regimes abhängig? Damit würde das „neue Erdöl“
       ein Problem des alten Öls wiederholen.
       
       3 Nov 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Bernhard Pötter
       
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