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       # taz.de -- Verhandlungen um Brexit-Deal: Es geht um Europas Errungenschaften
       
       > Ein guter Brexit-Deal wird täglich unwahrscheinlicher. Doch ein Abkommen
       > darf nicht auf Kosten von Umwelt- und Sozialstandards gehen.
       
   IMG Bild: Am 1. Januar 2021 endet die Übergangszeit
       
       Der Austritt Großbritanniens aus der EU schmerzt noch immer. Wir haben im
       Europäischen Parlament zum Abschied „Auld Lang Syne“ gesungen, uns umarmt,
       geweint. Nicht nur die Zusammenarbeit mit geschätzten Kolleginnen und
       Kollegen im Europäischen Parlament endete am 31. Januar, auch das
       Verhältnis zu den Menschen auf den Britischen Inseln wurde von einem Tag
       auf den anderen auf neue Füße gestellt.
       
       Uns war nicht erst an diesem Tag klar, dass die kommende Zeit schwer werden
       würde. Zu ambitioniert war der Zeitplan, in weniger als einem Jahr ein
       umfassendes Abkommen zu verhandeln, zu beschließen und zu ratifizieren.
       Dann kam die [1][Covid-19-Pandemie] und damit noch mehr Zeitdruck, um noch
       weniger Möglichkeiten direkt zu verhandeln.
       
       Die britische Regierung hat die Chance verstreichen lassen, die
       Verhandlungszeit unkompliziert zu verlängern. In zwei Monaten endet die
       Übergangszeit und ein gutes Abkommen wird mit jedem Tag unwahrscheinlicher.
       Es bleibt die Frage: Ist ein schlechter Deal besser als gar keiner?
       
       Im Falle eines „No Deal“ würde zwischen der [2][EU und Großbritannien] ab
       dem 1. Januar 2021 nach den Regeln der Welthandelsorganisation gehandelt –
       inklusive Zöllen und den damit verbundenen aufwendigen Zollkontrollen.
       Insbesondere für die europäische Autoindustrie und Landwirtschaft würde das
       Folgen haben. Der Export auf die Inseln würde in vielen Fällen
       unwirtschaftlich werden, Tausende Arbeitsplätze wären gefährdet. Auch für
       viele andere Bereiche wie Onlinehandel, Krankenversicherungen oder
       Fahrgastrechte stünden problematische Umstellungen an.
       
       Offen ist auch die Frage nach dem britischen [3][Binnenmarktgesetz]. Boris
       Johnson droht Teile des Austrittsabkommens, insbesondere die Regelungen für
       Nordirland, nicht umzusetzen. Zwar hat das House of Lords diese Option
       jetzt gestrichen, doch vom Tisch ist das Gesetz damit noch nicht. Die
       Intervention des Alt-Premierministers John Major gegen das
       Binnenmarktgesetz ist zwar symbolisch bedeutsam. Doch die Appelle der
       proeuropäischen Konservativen der alten Schule, die die EU-Mitgliedschaft
       damals gegen die Sozialdemokratie erkämpft hatten, verhallen ungehört. Die
       britische Regierung hat bereits angekündigt, die Entscheidung des
       Oberhauses zurückzunehmen. Sollte es zu keiner Einigung kommen, droht die
       britische Regierung wieder mit einer harten Grenze zwischen der Republik
       und Nordirland.
       
       Gerade solche Ankündigungen machen ein schlechtes Abkommen so unattraktiv.
       Wenn die britische Regierung einen bereits vereinbarten Kompromiss
       einseitig wieder abräumt, wie sehr können wir uns dann auf andere Zusagen
       verlassen, die ähnliche oder höhere Kompromissbereitschaft erfordern?
       
       In London träumt man von einem Singapur an der Themse, einem britischen
       Freihafen vor den Toren der EU. Die Konsequenzen aber sind absehbar. Die
       EU-Kommission hat gerade Vorschläge für einen europäischen Mindestlohn
       vorgelegt. Die britische Regierung indes könnte versucht sein, Sozial- und
       Arbeitsrechtsstandards zu lockern, um neue Unternehmen auf die Inseln zu
       locken.
       
       Auch Umwelt- und Klimastandards könnten abgesenkt werden, um einen
       Wettbewerbsvorteil zu erlangen. Im kommenden Jahr soll ein
       CO2-Grenzausgleich vorgelegt werden, eine Art Klimasteuer für
       umweltschädlich produzierte Importwaren. Und mit dem „Green Deal“ arbeitet
       die Union daran, Klimaschutz und nachhaltiges, sozial gerechtes
       Wirtschaften miteinander zu verbinden. Großbritannien würde zum neuen
       Eldorado enthemmter Wirtschaft. Das klingt eher nach Billiglohnland als
       nach Singapur – und das in unserer direkten Nachbarschaft.
       
       Boris Johnson gibt zwar gerne die neue Ausgabe von Margaret Thatcher. In
       Wahrheit aber pocht er auf kräftige staatliche Unterstützung für britische
       Unternehmen. Die EU kann diese merkantilistische Subventionierungspolitik
       nicht hinnehmen. Wer auf den europäischen Binnenmarkt will, muss die
       europäischen Wettbewerbsregeln einhalten. Noch laufen die Verhandlungen,
       eine Abschlussrunde auf höchster Ebene ist nicht unwahrscheinlich. Der
       britische Premierminister gefällt sich eben in der Rolle des Machers.
       
       Niemand wünscht sich einen „No Deal“. Denn gerade während der
       Covid-19-Pandemie müssen Lieferketten für Nahrungsmittel und Medikamente
       sichergestellt werden. Auch dürfen die Geflüchteten am Ärmelkanal nicht zum
       Spielball einer politischen Erpressung werden. Komplett machtlos wäre die
       EU aber auch nicht im Falle eines „No Deal“. Denn viele Regelungen für die
       für London so wichtige Finanzindustrie wären mit einer Frist von dreißig
       Tagen aufzukündigen.
       
       Das Europäische Parlament muss dem Abkommen am Ende zustimmen. Gemeinsam
       mit einer großen Mehrheit des Europäischen Parlaments hoffen wir auf ein
       Abkommen mit Großbritannien. Die Wahl des Brexit-Gegners Joe Biden zum
       nächsten US-Präsidenten wird die Chance auf ein Abkommen vermutlich
       erhöhen. Auch auf das Binnenmarktgesetz wird der neue US-Präsident Einfluss
       nehmen. Zwar ist der Verweis auf seine irische Herkunft häufig mit einem
       Augenzwinkern versehen, die unbedingte Unterstützung des
       Karfreitagsabkommens ist den US-Demokraten aber sehr ernst. Nicht umsonst
       hielten sich lange die Gerüchte, der britische Premier würde sich vor dem
       Wahltermin in den Vereinigten Staaten auf keinen Fall bewegen. Boris
       Johnson ist seit Monaten am Zug. Seit vergangenem Samstag dürfte der Druck
       auf ihn, einen Schritt in Richtung eines Abkommens zu machen, noch einmal
       gestiegen sein.
       
       Doch bei einem schlechten Deal, der eben keine gemeinsamen Regeln für
       Umwelt-, Arbeit- und Verbraucherschutzstandards findet, drohen viele
       europäische Errungenschaften zu kollabieren. Die Folgen für Europas Umwelt
       und Wirtschaft wären drastisch.
       
       12 Nov 2020
       
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