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       # taz.de -- Studium während der Coronapandemie: Allein im Uni-Kosmos
       
       > Die Pandemie stellt Studierende vor Herausforderungen. Wer nicht aus
       > einem Akademikerhaushalt kommt, hat es schwer.
       
   IMG Bild: Vor der Pandemie: Erstsemester bei der Begrüßung an der Universität Köln im Oktober 2019
       
       Berlin taz | Matea Buzuk kämpft mit dem schlechten Gewissen. Die Studentin
       der Kulturarbeit hat einen ihrer Nebenjobs in einer Veranstaltungslocation
       zu Beginn der Pandemie verloren. Um über die Runden zu kommen, lieh sie
       sich Geld – auch bei ihren Eltern. Dabei sei der Vater als Taxifahrer wegen
       Corona ebenfalls von geringeren Einnahmen betroffen. BAföG erhält sie
       nicht. Um ihre Eltern nicht mehr als unbedingt notwendig zu belasten,
       versucht sie nun, nur das Nötigste einzukaufen und vereinzelte Aushilfsjobs
       aufzutreiben.
       
       Wie Buzuk haben Tausende Studierende während der Coronapandemie ihren
       Nebenjob verloren. Allerdings geht eine im Mai veröffentlichte Studie des
       Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) davon aus, dass eine
       Gruppe besonders betroffen ist: Die der sogenannten Arbeiterkinder, wie
       Nichtakademikerkinder auch genannt werden. Sie jobben häufiger als ihre
       KommilitonInnen aus Akademikerfamilien in gering qualifizierten Berufen –
       hinter Bartresen und an Theatergarderoben. Und damit in Branchen, die seit
       Monaten unter den Coronamaßnahmen ächzen.
       
       Dabei sind gerade Kinder aus nichtakademischen Familien auf ihre Nebenjobs
       angewiesen. Wie die 21. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks zeigt,
       macht der eigene Verdienst bei Studierenden ohne akademischen Hintergrund
       30 Prozent des Gesamteinkommens aus. Bei Akademikerkindern sind es 20
       Prozent.
       
       Barschicht statt Hiwi-Stelle, Einlass statt Elternfinanzierung – fällt der
       Job weg, können Ausgaben für einen kaputten Laptop schnell zur
       Schwierigkeit werden; steigende Mieten zur Dauerbelastung. „Die größte
       Hürde im vergangenen und im jetzigen Semester ist die Studienfinanzierung“,
       erklärt auch Julia Munack, Sprecherin der Organisation ArbeiterKind.de, die
       Studierende aus Familien ohne Hochschulerfahrung vernetzen will.
       
       Wer vor der Pandemie schon blank war, geht leer aus 
       
       Zwar gibt es Hilfen für Studierende, die in Geldnot geraten sind: Bis Ende
       Mai 2021 bietet die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) ein zinsloses
       Darlehen von 650 Euro im Monat. BAföG-Anträge können schneller an ein
       geändertes Elterneinkommen angepasst werden. Studierende mit finanziellen
       Einbußen sollen im November wieder staatliche Nothilfen beantragen können.
       Wie die erneute Unterstützungsrunde ausgestaltet wird, ist indes weitgehend
       unklar. Noch sind die Antragsformulare nicht online verfügbar.
       
       Auf Anfrage der taz erklärte ein Ministeriumssprecher allerdings,
       Bildungsministerin Anja Karliczek könne sich vorstellen, dass die
       Überbrückungshilfe auch über den November hinaus bis zum Ende des
       Wintersemesters weiterlaufe. Außerdem sollen die Voraussetzungen für die
       Antragstellung vereinfacht werden.
       
       Das Programm, das im Oktober mit dem Verweis auf sinkende Antragszahlen
       ausgesetzt wurde, hatte massive Kritik auf sich gezogen. Zum einen, weil
       die Hilfen nur bei einem Kontostand unter 500 Euro ausgezahlt wurden. Vor
       allem aber, weil Studierende, die schon vor der Pandemie in eine
       finanzielle Schieflage geraten waren, leer ausgingen. Eine Regelung, die
       die hochschulpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag, Nicole
       Gohlke, in dessen Plenardebatte zuletzt als „unterlassene Hilfeleistung“
       bezeichnete.
       
       „Es hat sich bereits in den vergangenen Monaten gezeigt, dass zu viele
       Anträge abgelehnt werden mussten, da die Notlage nicht pandemiebedingt war,
       sondern unabhängig davon schon davor bestand“, findet auch die
       stellvertretende DGB-Vorsitzende Elke Hannack. Zudem müsse die Höhe der
       Hilfe überdacht werden, da die bisherigen maximal 500 Euro Zuschuss im
       Monat die durchschnittlichen Lebenshaltungskosten nicht im Ansatz deckten.
       
       Antragstellung zu kompliziert 
       
       Gegenüber der taz beklagt ArbeiterKind.de-Sprecherin Munack darüber hinaus
       auch noch bürokratische Hürden: Manche Studierende hätten ihrer
       Organisation gegenüber angegeben, die Überbrückungshilfe gar nicht erst
       beantragt zu haben, weil der Antrag zu kompliziert gewesen sei und es wenig
       Hilfe dabei gegeben habe.
       
       Indes ist das BAföG nur für wenige Studierende eine Stütze. Lediglich 11
       Prozent erhalten das staatliche Darlehen. Den Höchstsatz von derzeit 861
       Euro bekommt etwa die Hälfte von ihnen. Als Grund für die niedrigen Zahlen
       wird oft ein zu niedriger Freibetrag beim Elterneinkommen genannt: Derzeit
       liegt der bei 1.890 Euro für verheiratete Paare.
       
       Und selbst wer den Höchstsatz bekommt, dürfte angesichts der in diesem Jahr
       weiter gestiegenen Mietpreise in deutschen Unistädten schnell auf
       zusätzliche Einnahmen angewiesen sein. In München kostet eine
       durchschnittliche Studierendenwohnung laut MLP Studentenwohnreport 2020
       momentan 724 Euro warm.
       
       Angesichts der Pandemie hat die Debatte über eine Reform des BAföG erneut
       an Fahrt aufgenommen. Die Linke will die Elternfreibeträge um 10 Prozent
       anheben, das BAföG in einen rückzahlungsfreien Vollzuschuss umwandeln und
       die Wohnpauschale „ortsangemessen erhöhen“.
       
       Die Grünen schlagen eine studentische Grundsicherung vor. Dabei sollen alle
       Studierenden bis 25 Jahre einen monatlichen Garantiebetrag von 290 Euro
       erhalten, außerdem gäbe es einen einkommensabhängigen Bedarfszuschuss –
       ohne Rückzahlung. Die SPD strebt an, einen Notfallmechanismus im BAföG zu
       etablieren, mit dem Studierende in Krisenzeiten unterstützt werden können.
       Wie es um dessen Umsetzung steht, ist ungewiss.
       
       Doch es sind nicht nur die finanziellen Probleme, die den Studierenden in
       der Pandemie zu schaffen machen. Hinter ihnen liegt ein Semester vor dem
       heimischen PC, vor ihnen ein [1][„Hybridsemester“], wie manche Hochschulen
       die angestrebte Mischung aus vielen Onlineveranstaltungen und wenigen
       Präsenzseminaren optimistisch nennen. Gerade für Studierende ohne
       akademischen Hintergrund birgt das zusätzliche Herausforderungen.
       
       „Wir erleben oft, dass Studierende aus Arbeiterfamilien sich fremd an der
       Uni fühlen, weil der Habitus ein ganz anderer ist, als der, den sie bislang
       gewöhnt waren“, berichtet Munack. Von 100 eingeschulten Arbeiterkindern
       finden durchschnittlich ohnehin nur 21 den Weg an die Hochschulen, und
       damit 53 weniger als bei den Akademikerkindern. „Das ist wie eine andere
       Sphäre zu Beginn des Studiums. Man hat vor den Lehrenden teilweise auch
       Ehrfurcht, weil die so viel erreicht haben, ist selbst völlig neu und
       unbedarft in der akademischen Welt und will auch nicht auffallen.“
       
       Finden Seminare online statt, fehlen SitznachbarInnen, die bei
       Unsicherheiten unkompliziert befragt werden können. Gerade Erstsemester,
       die noch keine Gelegenheit hatten, ein soziales Netz an den Unis
       aufzubauen, leiden darunter.
       
       „Ich kannte keine Kommilitonen, ich kannte keine Profs, ich kannte
       eigentlich niemanden. Und [2][dann ging es online los] und da waren ganz
       viele Namen und der Professor, den man als einzigen gesehen hat“, erzählt
       Philipp Guppenberger von seinen ersten Hochschultagen. Wie viele
       Nichtakademikerkinder entschied sich der 22-Jährige zunächst für eine
       Ausbildung, begann dann im Sommersemester ein BWL-Studium – in einer neuen
       Stadt, mitten im digitalen Nirgendwo.
       
       „Als die erste Hausarbeit anstand, fiel mir total die Decke auf den Kopf,
       weil ich überhaupt keinen Plan hatte“, so Guppenberger, „Wir mussten das
       Thema festlegen, eine Gliederung erstellen und ich war völlig überfordert.“
       Seine Eltern hätten sich zwar zum Korrekturlesen bereit erklärt, allerdings
       nie selbst eine wissenschaftliche Arbeit geschrieben. Rat fand er
       schließlich nicht an der Uni, sondern bei einer Freundin.
       
       Zu der Unsicherheit im digitalen Unikosmos gesellten sich Existenzsorgen:
       Seinen ursprünglich an Land gezogenen Nebenjob in einem Restaurant, der
       neben BAföG und elterlichen Zuschüssen die Studienfinanzierung sichern
       sollte, konnte der gelernte Koch nie antreten, obwohl er recht schnell
       Ersatz in einer Tankstelle fand. Ein weiterer Stressfaktor, der nicht zu
       unterschätzen ist: Eine im Auftrag von Juso-Hochschulgruppen durchgeführte
       Befragung weist darauf hin, dass Arbeiterkinder während der Coronapandemie
       doppelt so häufig unter Existenzängsten leiden, wie ihre KommilitonInnen
       aus Akademikerhaushalten.
       
       Die im Juli veröffentlichte Studie ist zwar nicht repräsentativ, weitere
       Auswertungen würden laut Studienautorin Jacqueline Niemietz allerdings
       nahelegen, dass sich die Existenzangst der Studierenden auch negativ auf
       deren Produktivität auswirkt. „Das heißt, je höher meine Existenzangst ist,
       desto weniger Kurse werde ich im Semester belegen“, so Niemietz.
       
       „Ich kann nicht sagen: Ich mach mal langsam“ 
       
       Gerade für Arbeiterkinder scheint eine schnelle Beendigung ihres Studiums
       aber schon aus finanziellen Gründen oft wichtig. „Ich kann jetzt nicht
       sagen, dann mache ich dieses Semester mal langsam und schaue, was auf mich
       zukommt“, sagt etwa Julia Wirth. Die Soziologiestudentin ist die erste aus
       ihrer Familie an einer Uni. Von ihren Eltern habe sie wenig Unterstützung
       bei der Studienentscheidung bekommen.
       
       Weil deren Gehalt knapp über der BAföG-Einkommensgrenze läge, sei sie neben
       Studijobs aber auf ihre finanzielle Hilfe angewiesen. Ein Umstand, der
       schon zu Streitigkeiten geführt habe. „Wenn ich jetzt weniger Prüfungen
       mache, dann hinke ich noch mehr hinterher. Wie soll ich meinen Eltern
       erklären, dass ich länger brauche?“ Dass viele Bundesländer die
       Regelstudienzeit wegen Corona um ein weiteres Semester verlängern wollen,
       hilft der 23-Jährigen kaum.
       
       Ob die Coronapandemie langfristig zu höheren Studienabbruchzahlen
       insbesondere bei Arbeiterkindern führen wird, lässt sich derzeit kaum
       absehen. Eine Studie des Deutschen Zentrums für Hochschul- und
       Wissenschaftsforschung (DZHW) aus dem Jahr 2017 zeigt aber, dass
       Arbeiterkinder ihr Studium öfter als Akademikerkinder aus finanziellen
       Gründen abbrechen. Gründe, die angesichts des pandemiebedingten
       Teillockdowns verstärkt zum Tragen kommen könnten.
       
       10 Nov 2020
       
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