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       # taz.de -- Jazzfest Berlin gestreamt: Ist Berlin doch eine Wolke?
       
       > Weil vielen das Feeling von Livekonzerten fehlt, hatte das Jazzfest
       > Berlin als Streamingevent ein großes Publikum. Der Rückblick.
       
   IMG Bild: Lakecia Benjamin am Samstag im New Yorker Club Roulette
       
       Mit den Festivals dieser Coronapandemie-Tage ist es eine Crux: Obwohl das
       Amalgam der digitalen Übertragung via Stream auch nicht ansatzweise in der
       Lage ist, das berüchtigte „Feeling“ von Livekonzerten im Wohnzimmer zu
       vermitteln, so unausweichlich ist seine Akzeptanz, wenn man nicht gänzlich
       auf musikalische Bühnenkunst verzichten möchte.
       
       Körperlichkeit, die sich in Schweiß, Blut und Tränen ausdrücken kann;
       Wangen, die zu bersten drohen; Muskelpartien voller Anspannung;
       Erschöpfung; Augenaufschläge, die bedeuten sollen, dass der Musikerkollege
       nun übernehmen muss, sind in ihrer mattscheibenhaften, zweidimensionalen
       Darstellung auf Bildschirmen und Screens leider kaum vermittelbar.
       
       Trotzdem gibt es dafür ein Publikum: Schon am Sonntagmittag hatte es bei
       der Übertragung des rein virtuell stattfindenden [1][Jazzfests Berlin]
       31.000 Klicks auf der Festivalseite des Medienpartners arte.Concerts
       gegeben, der das Live- und On-demand-Programm ausstrahlte. Das sind
       vergleichsweise erfreuliche Zahlen, die dem Digitalspuk eine gewisse
       Berechtigung geben. Das bleibt eine positive Erkenntnis des Jazzfests
       Berlin, das in seiner fast 60 Jahre währenden Geschichte erstmalig ohne
       Publikum live auskommen musste.
       
       ## Erschwerte Laborbedigungen
       
       Die erschwerten Laborbedingungen, unter denen eines der prominentesten
       deutschen Jazzfestivals stattfinden musste, offenbarten eine ganze Reihe an
       Beobachtungen zum Festivalkonzept selbst, zur Kulturlandschaft 2020 und zur
       hiesigen Jazzszene. Man musste nur genau hinsehen und -hören. Festzustellen
       ist etwa, dass ein Ortswechsel keineswegs automatisch mehr Durchlässigkeit
       produziert.
       
       Das seit 2001 angestammte [2][Haus der Berliner Festspiele] stand dieses
       Jahr für das Jazzfest renovierungsbedingt nicht zur Verfügung. Deswegen zog
       es in den Wedding; eher Arbeiterviertel als Kulturstandort. Hier, in einem
       ehemaligen Krematorium, das heute „silent green Kulturquartier“ heißt,
       sollte nun die große Öffnung hin zur angestammten Bevölkerung getätigt
       werden.
       
       Nur entstand dabei lediglich eine Blase innerhalb des Stadtteils –
       ersichtlich am Line-up, das keinerlei Angebote an (post-)migrantische Kids
       und Jugendliche bereithielt. Oder soll im Zuge der Quartiersentwicklung
       Klientelpolitik für zukünftige Gentrifizierer gemacht werden?
       Avantgarde-Jazz wird ja nicht deswegen ansprechender und populärer, bloß
       weil er mitten im Wedding stattfindet.
       
       ## Die hermetische Seite der deutschen Jazzszene
       
       Womit wir bei der nächsten Erkenntnis sind: Die deutsche Jazzszene zeigte
       sich in den Streams von ihrer hermetischen Seite. Das ist keine Frage der
       Qualität; es gab grandiose Auftritte zu bestaunen, genannt seien etwa die
       hochkomplexen Kompositionen des Kölner Philipp Zoubek Trios und Silke
       Eberhards Dezett Potsa Lotsa X.
       
       Das Set des in Berlin ansässigen schwedischen Saxofonisten Otis Sandsjö,
       dessen Alben „Y-Otis“ und „Y-Otis 2“ für Furore sorgten, konnte nicht wie
       erhofft stattfinden. Stattdessen dekonstruierten Dan Nicholls, der auch am
       Album mitgearbeitet hat, und der Drummer Ludwig Wandinger das Material von
       „Y-Otis 2“. Nur, Spannung kam dabei nicht wirklich auf.
       
       Geschmacklich dann doch eher problematisch war die Hommage an den
       [3][US-Soulsänger Bill Withers] durch die Sängerin Natalia Mateo. Sie
       erfüllte alle Klischees von überkandideltem Jazzgesang und zerstörte die
       Withers-Originale mit selbstgedichteten deutschen Textvarianten.
       Schrecklich, diese Inszenierung von Profis ohne jeden Selbstzweifel! Wer
       dazugehört, dem wird jedes Experiment verziehen – gleichzeitig werden
       Einflüsse von außen kaum wahrgenommen. Ist Berlin also doch eine Wolke?
       
       ## Gelungener Brückenschlag
       
       Schon eher gelang der transatlantische Brückenschlag nach New York – in den
       Club Roulette in Brooklyn, einen Jazzclub mit Kultstatus. Dort spielte die
       Saxofonistin Lakecia Benjamin ein wirklich phänomenales Set, das aus
       Kompositionen des Ehepaars Alice und John Coltrane bestand. Als
       On-demand-Videos gab es zudem die Interventionen der US-Künstlerinnen Camae
       Ayewa alias [4][Moor Mother] und [5][Matana Roberts].
       
       Roberts’ „Stay True“ ist selbst als sechsminütiges Video schlicht und
       ergreifend große Kunst. Auf Basis des Quilts bastelte sie ein Patchwork aus
       Stimmen, Saxofontönen und einem vibrierenden Video mit der klaren Botschaft
       „Protect Black Women“. Dazu gesellt sich in den begleitenden Texten eine
       Aufzählung von 19 Namen. Es sind die Namen schwarzer Frauen, die in den
       letzten Jahren durch Polizeigewalt umkamen.
       
       Im Zuge der Veröffentlichung ihres Albums „Live“, das Ausschnitte vom
       letztjährigen Auftritt beim Festival vereint, wurde folgendes öffentlich:
       Kurz vor dem Abflug nach Berlin erfuhr die Band, dass ihr Bandkollege
       Viktor Le Gives in Chicago auf der Straße ohnmächtig geworden und in einem
       Krankenhaus aufgewacht war. Als sie in Berlin ankamen, wandte sich der
       Manager der Band an das Produktionsteam des Jazzfest Berlin, um sie über
       die Situation zu informieren. Die erste Reaktion: Falls ihr keinen Ersatz
       findet, müssen wir das Honorar kürzen.
       
       Die Festivalleitung, die damals nicht involviert war, war nun um
       Schadensbegrenzung bemüht; es ging dieser Tage eine Mail an Künstlerin und
       Management mit einer Entschuldigung raus.
       
       11 Nov 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Jazzfest-Berlin-als-Streamingfestival/!5726193/
   DIR [2] /Ilan-Volkov-ueber-zeitgenoessische-Musik/!5230698/
   DIR [3] /Nachruf-auf-Bill-Withers/!5676483/
   DIR [4] https://www.berlinerfestspiele.de/de/berliner-festspiele/on-demand/2020/jazzfest-berlin/moor-mother.html
   DIR [5] https://www.berlinerfestspiele.de/de/berliner-festspiele/on-demand/2020/jazzfest-berlin/matana-roberts-stay-true.html
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Lars Fleischmann
       
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