URI: 
       # taz.de -- Die Wahrheit: Fruchtbare Eckenwühler
       
       > Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (109): Tanz- und
       > Rennmäuse sind possierlich und haben viele Fans und noch mehr
       > Eigenheiten.
       
   IMG Bild: Süßes Knabbern: Mongolische Wüstenrennmäuse
       
       Der Tierpathologe Achim Gruber berichtet in „Das Kuscheltierdrama“ (2019),
       dass er als Kind Tanzmäuse besaß: Die waren sehr niedlich, drehten sich den
       ganzen Tag im Kreis – weil sie einen angezüchteten Innenohrdefekt hatten.
       Daraus resultierte ein Gleichgewichtsproblem: Sie konnten nicht geradeaus
       laufen. Ein eindeutiger Fall von „Qualzucht“. Heute gibt es sie nicht mehr
       im Handel: „Zumindest bei den Tanzmäusen hat sich was bewegt“, schreibt er.
       Bei Ebay werden jedoch noch immer jede Menge Tanzkostüme für diese Mäuse
       angeboten.
       
       Die Rennmäuse kann man in jeder Tierhandlung kaufen, sie rennen aber nicht
       ständig. Der Sohn meiner Freundin war in einer Kita gewesen, in denen die
       Kindergruppen „Feldmäuse“, „Wühlmäuse“, „Spitzmäuse“ und „Rennmäuse“
       hießen. Später fragte er in einer Tierhandlung den Verkäufer: „Haben Sie
       Mäuse?“ Dieser fragte zurück: „Zum Spielen oder zum Verfüttern?“ Und fügte
       hinzu: „Die zum Verfüttern sind billiger.“ Er meinte weiße Mäuse.
       
       Der Sohn meiner Freundin wollte aber zwei Rennmäuse, sie kosteten 16 Euro,
       dazu kaufte er noch für 10 Euro das Buch „Mongolische Rennmäuse: Haltung,
       Pflege, Beschäftigung“. Einen Käfig hatte er bereits, von einem Cousin.
       Seine Mutter googelte sogleich, was die Tiere für eine „artgerechte
       Einrichtung“ bräuchten.
       
       Auf der Internetseite einer Tierschutzorganisation hieß es: „In der Natur
       leben mongolische Rennmäuse in Steppen und Halbwüsten, wo sie ihren enormen
       Bewegungsdrang ausleben und den größten Teil ihres Lebens unterirdisch mit
       Graben von Gangsystemen verbringen. Diese Voraussetzungen kann man den
       Tieren in Gefangenschaft kaum bieten. Vier Pfoten rät deswegen von der
       Anschaffung mongolischer Rennmäuse ab!“ Außerdem sei „das Skelett der Mäuse
       zart und zerbrechlich, daher sind die Tiere für Kinder ungeeignet.“
       
       ## Zum Beispiel Fettschwanzrennmäuse
       
       Im Forum [1][rennmaus.de], das 32.580 Mitglieder hat, erfuhr sie: „Keine
       Rennmaus gleicht charakterlich der anderen“. Was man von den Menschen nicht
       gerade sagen kann. „Manche Rennmäuse können schnell zahm werden, andere
       wiederum bleiben eher scheu. Es gibt etwa 100 verschiedene Rennmausarten
       auf der Welt, die hauptsächlich in Afrika und Asien beheimatet sind“ – zum
       Beispiel Fettschwanzrennmäuse und Kurzschwanzrennmäuse sowie die großen und
       die kleinen indischen Nacktsohlenrennmäuse.
       
       „Als Heimtier am meisten verbreitet ist jedoch die Mongolische Rennmaus.
       Ihr lateinischer Name ‚Meriones Unguiculatus‘ wird – fälschlich – gerne als
       ‚Krieger mit Krallen‘ übersetzt, womit Bezug genommen wird auf zum Teil
       aggressiv ausgetragene Revierkämpfe, die mitunter tödlich enden.“ Deswegen,
       aber auch wegen der großen Fruchtbarkeit der Rennmaus-Weibchen (sie
       bekommen ein bis dreimal im Jahr bis zu zwölf Junge) raten Tierschützer,
       Männchen zu kastrieren.
       
       Es gibt mehr Rennmausforen für den possierlichen kleinen Nager, als man
       erwarten würde. Eines hebt hervor, wenn eines der Tiere stirbt (sie werden
       maximal zwei Jahre alt) und man nur zwei hatte, sollte man ein Tier
       dazukaufen, denn Rennmäuse lieben und leben gesellig. In der Schweiz ist es
       sogar gesetzlich verboten, die in Herden oder sozialen Verbänden lebenden
       kleinen Nager und großen Wiederkäuer einzeln zu halten. Wikipedia weiß
       jedoch über die Wüstenmäuse zu berichten, „die Rennmausarten in heißen
       Wüsten sind meist Einzelgänger“. Gilt das auch für überheizte Kinderzimmer?
       
       ## Mach Tiere glücklich
       
       Der Sohn meiner Freundin baute aus Leim, Pappe und Plastikröhren ein
       ansprechendes Tunnelsystem für die zwei Rennmäuse im Käfig. Die
       amerikanische Verhaltensforscherin Temple Grandin hat darüber in ihrem Buch
       „Making Animals Happy. How to Create the Best Life for Pets and Other
       Animals“ (2009) nachgedacht.
       
       Zwar ist die autistische „Animal Science“-Professorin eher für
       Großvieheinheiten zuständig, insofern sie die Situation von Rindern,
       Schweinen und Mastgeflügel auf Schlachthöfen und Zulieferfarmen, unter
       anderem für McDonald’s, verbessert, aber sie schreibt auch: Gefangen
       gehaltene Tiere entwickeln mangels aufregender Umwelt leicht „stereotype
       Verhaltensweisen“. Man spricht von Hospitalismus, wenn ein Elefant sich zum
       Beispiel den ganzen Tag „wiegt“, also mit dem Kopf wackelt, oder ein Tiger
       immer am Gitter entlangwandert.
       
       In Käfigen lebende Rennmäuse haben eine „In-den-Ecken-graben-Stereotypie“,
       sie verbringen 30 Prozent ihrer „aktiven Zeit“ damit. Zwar meinen viele
       Forscher, dass sie im biologischen Sinne graben müssen, aber das ist laut
       Temple Grandin falsch: „In Freiheit graben die Rennmäuse nicht, um bloß zu
       graben. Sie graben, um Tunnel und Nester zu schaffen. Wenn sie das
       geschafft haben, hören sie auf zu graben.“ Die Rennmäuse graben also
       ergebnisorientiert.
       
       ## Grab-Stereotypie
       
       Der schwedische Neurobiologe Christoph Wiedenmayer hat das getestet: Er
       setzte einen Wurf Jungtiere in einen Käfig mit viel trockenem Sand, einen
       anderen Wurf in einen Käfig, in dem sich bereits fertige Gräben und Gänge
       befanden. Die Rennmäuse im Sand entwickelten sofort eine
       „Grab-Stereotypie“, die anderen fingen erst gar nicht an zu graben. Das
       zeigte: Die Motivation für die „Grab-Stereotypie“ ist die Notwendigkeit,
       sich in einem sicheren Raum zu verstecken.
       
       Rennmäuse haben in Freiheit viele Feinde, in Laboren und Kinderzimmern nur
       die Menschen. So oder so: „Die Rennmaus braucht das Gefühl, sich sicher zu
       fühlen“, nicht weil sie quasi von Natur aus ein „Wühler“ ist. Inzwischen
       zählen die Biologen sie auch schon nicht mehr zu den „altweltlichen
       Wühlern“, sondern zu den „Mäuseartigen“. Für Temple Grandin zeigen
       Rennmäuse in Käfigen ein normales Verhalten in einer unnormalen Umgebung:
       „Eine Rennmaus, die 30 Prozent ihrer Zeit mit Graben verbringt, ohne in der
       Lage zu sein, einen Tunnel zu graben, ist in keinen guten Händen.“ In
       Freiheit wäre eine Rennmaus, die sich keinen Tunnel gräbt, schnell Beute
       eines Raubtiers.
       
       Die beiden jungen Rennmäuse, die der Sohn meiner Freundin sich gekauft
       hatte, waren geschlechtlich noch schwer zu bestimmen, deswegen ließ er die
       Frage „Wer ist was?“ einstweilen auf sich beruhen. Und damit auch die
       Namensgebung. Dafür baute er ihnen den Käfig immer „artgemäßer“ aus.
       
       ## Knopfäugige Rennmäuse
       
       Eine Rennmaus ließ sich von ihm bald den Bauch kraulen, wobei sie in eine
       Art Koma fiel. Er freute sich über so viel Vertrauen, aber im Forum „Meine
       Rennmauswelt“ las er, dass viele Nagerarten sich quasi tot stellen, wenn
       sie Angst haben, ähnlich auch beim Streicheln, sodass man nicht wisse, ob
       dies eine Angstreaktion oder Wohlbehagen sei.
       
       In ihrem Roman „Fürsorge“ (2017) erwähnt Anke Stelling einen Jungen, der
       ein Terrarium hat, „in dem knopfäugige Rennmäuse rascheln“. Sein Vater
       fragt ihn oft: „Hast du die Mäuse gefüttert?“ Der Junge sagt jedes Mal „Ja,
       klar.“ Auch meine Freundin erinnerte ihren Sohn ständig, die Mäuse zu
       füttern. Als sie es leid war, übernahm sie deren Versorgung. Aber als sie
       einmal verreisen musste, vergaß sie es, und als sie zurückkam, waren die
       Mäuse tot.
       
       9 Nov 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://www.rennmaus.de
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Helmut Höge
       
       ## TAGS
       
   DIR Tiere
   DIR Mäuse
   DIR Tierwelt
   DIR Paradies
   DIR Schwalben
   DIR Biologie
   DIR Die Wahrheit
   DIR Die Wahrheit
   DIR Die Wahrheit
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Die Wahrheit: Fußlose Balz mit Federn
       
       Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (112): Die Paradiesvögel
       wären fast der Damenmode zum Opfer gefallen, heute sind sie geschützt.
       
   DIR Die Wahrheit: Schrill, heiser und elegant
       
       Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (110): Die Seeschwalbe
       wird gern von Forschern besendert, um ihr folgen zu können.
       
   DIR Die Wahrheit: Vom Scheibentod bedroht
       
       Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (Folge 110): Rührendes,
       aber auch Erhellendes von der doch sehr filigranen Waldschnepfe.
       
   DIR Die Wahrheit: Schlaue Wasserwusler
       
       Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (108): Otter leben sozial,
       kennen den Werkzeuggebrauch und sind nicht überaus ängstlich.
       
   DIR Die Wahrheit: Watschelnd auf der Überholspur
       
       Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (107): Anhänglich und mit
       eselähnlichem Paarungsruf – der Pinguin.
       
   DIR Die Wahrheit: Ein Denkmal für Burlero
       
       Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (106): Die Verbindung von
       Stier, Sexualität und Gewalt ist uralt, mittlerweile aber verpönt.