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       # taz.de -- Jugendämter in Berlin: Der Hilfeschrei wird lauter
       
       > Die Pandemie verschärft die schwierigen Arbeitsbedingungen in den
       > Jugendämtern. Viele sind nicht mehr arbeitsfähig – weil Handys und
       > Laptops fehlen.
       
   IMG Bild: Kinderschutz ist nur eine der vielen Aufgaben von Jugendämtern
       
       Es war ein stiller Hilfeschrei: Vor sieben Jahren hängten
       Jugendamtsmitarbeiter*innen weiße Fahnen der Kapitulation aus ihren
       Fenstern. Unzumutbar sei die Arbeitsbelastung. Geändert hat sich seitdem
       wenig, und nun kommt eine weitere Eskalationsstufe dazu. „Jetzt, in der
       Pandemie, sind die Jugendämter tatsächlich nicht mehr arbeitsfähig“, sagt
       Hannes Wolf, Vorsitzender beim Berliner Landesverband des DBSH, dem
       Deutschen Berufsverband für Soziale Arbeit, der seit Jahren die Proteste
       der Jugendämter unterstützt.
       
       Nun haben sich Mitglieder des DBSH Berlin, die in verschiedenen
       Jugendämtern der Stadt arbeiten, erstmals wieder physisch getroffen. Ihre
       gemeinsame Bilanz war verheerend. Zu den bekannten Widrigkeiten in den
       Jugendämtern kämen nun nämlich neue dazu: Denn auch sieben Monate nach dem
       ersten Lockdown besitzen viele Mitarbeitende weder Diensthandy noch
       Laptops.
       
       Was das konkret bedeutet, weiß Heike Schlizio-Jahnke, ebenfalls Mitglied im
       DBSH, für den sie auch spricht. Schlizio-Jahnke arbeitet in leitender
       Funktion in einem der Regionalen Sozialpädagogischen Dienste in Mitte.
       Diese Dienste sind sozusagen der Basisdienst der Jugendämter, Anlaufstelle
       für Eltern und deren Kinder, zuständig auch für Kinderschutzfälle. „Die
       Technik sollten wir eigentlich schon letztes Jahr bekommen, ganz ohne
       Corona“, erzählt sie. Eigentlich. Als im März der Lockdown kam und die
       Kolleg*innen zu Hause bleiben sollten, „haben wir selbst ein paar so
       billige Tastentelefone angeschafft, damit wir arbeiten können“.
       
       Manche Kolleg*innen, heißt es hinter vorgehaltener Hand, hätten ihre
       privaten Telefone und E-Mail-Adressen benutzt – benutzen müssen. Erlaubt
       ist das nicht. Laptops gab es aber kaum, alternative Lösungen wie
       Datentunnel auf den Heimcomputern würden aus Datenschutzgründen abgelehnt.
       
       ## Smartphone ja, Vertrag nein
       
       Die Smartphones und Laptops seien zwar inzwischen teilweise da, aber die
       IT-Abteilung schaffe es wegen Überlastung nicht, sie einzurichten, sagt
       Schlizio-Jahnke. Und von der Finanzverwaltung sei zwar das Geld für die
       Geräte, nicht aber für den laufenden Betrieb bereitgestellt worden. Es gibt
       also beispielsweise keine Mittel für Handyverträge. Ohnehin sei nur ein
       Laptop auf fünf Kolleg*innen vorgesehen – wie das bei einem neuerlichen
       Lockdown funktionieren soll, weiß keiner.
       
       Videokonferenzen seien mit den Geräten der Jugendamtsmitarbeiter*innen gar
       nicht möglich. Das ist nicht nur für Dienstbesprechungen in Pandemiezeiten
       fatal. Vor allem die Hilfekonferenzen, bei denen sich Schulen, freie Träger
       der Kinder- und Jugendhilfe, Schulpsycholog*innen, Jugendamt und auch die
       Jugendlichen selbst zusammensetzen, um über Ziele, Probleme und Krisen zu
       beraten, sind so nur schwer durchzuführen, fallen zum Teil schon jetzt aus.
       Von den Hilfekonferenzen hängt aber ab, welche Hilfen gewährt und ob
       Maßnahmen verlängert werden.
       
       „Wir haben auch keine Räume, um das mit den nötigen Abstandsregelungen
       durchzuführen“, sagt Schlizio-Jahnke. Die Büros der Kolleg*innen seien
       häufig nicht groß genug, um überhaupt nur eine Familie zu empfangen. „Wir
       wurden ja immer kleinergespart“, sagt sie. An Besprechungsräumen fehle es
       ebenso. „Es bleibt so viel liegen.“ Noch immer und trotz jahrelanger
       Proteste betreuten die Mitarbeiter*innen zwischen 80 und 90 Familien –
       empfohlen sind maximal 60. „Das schlechte Gefühl wächst“, sagt die
       Jugendamtsmitarbeiterin.
       
       ## Notprogramm und eingeschränkter Betrieb
       
       Sozialpädagoge Richard Schade sitzt auf der anderen Seite. Er arbeitet im
       betreuten Jugendwohnen in Mitte. Bezirksämter, Jobcenter, Schulen – „Alle
       Strukturen sind derzeit überlastet“, sagt er. „Aber wenn die Jugendämter
       nicht mehr mitziehen, ist das besonders schlimm.“ Auch er beklagt, dass es
       immer weniger Hilfekonferenzen gebe. Dabei obliege den Jugendämtern die
       Fach- und Fallverantwortung, die könne nicht einfach auf die Träger
       delegiert werden. „Es fehlt die Kontrolle, und der partizipative Aspekt
       geht verloren, die Jugendlichen haben fast keine Stimme mehr“, bedauert der
       Sozialpädagoge. Er befürchtet, dass die Brüche in den Biografien der
       betreuten Jugendlichen und jungen Erwachsenen dadurch noch sichtbarer
       werden.
       
       Wie ernst die Lage ist, zeigt das Schreiben eines Jugendamtsleiters, das
       der taz vorliegt. Darin ist von einem Notprogramm und eingeschränkten
       Dienstbetrieb die Rede: Die Sozialpädagogischen Dienste würden alle
       verbleibenden Kräfte einsetzen, um den Kinderschutzauftrag sicherzustellen,
       also die dringende gerichtliche Vertretung von Kindern und Jugendlichen
       sowie Beratung Hilfesuchender. Das ist aber nur ein Teil ihrer Aufgabe: Den
       Kooperations- und Leistungsverpflichtungen gegenüber freien Trägern,
       Schulen, Kliniken, teils auch Gerichten könne man nicht mehr nachkommen.
       
       „Die Arbeitsfähigkeit der Jugendämter ist jederzeit gegeben, insbesondere
       der Kinderschutz ist jederzeit sichergestellt“, heißt es dagegen aus der
       Senatsverwaltung für Jugend. Doch auch hier weiß man um die hohe
       Arbeitsbelastung. 119 der 904 Vollzeitstellen seien berlinweit nicht
       besetzt – mehr als jede zehnte Stelle. Nach Informationen der taz sind es
       in einigen Bezirken sogar mehr als 30 Prozent.
       
       ## Angst vor dem Jahresende
       
       Um die Sozialpädagogischen Dienste zu stärken, sollten alle
       Mitarbeiter*innen mit Diensthandys ausgestattet werden, im Haushaltsjahr
       2020 seien dafür 540.000 Euro zur Verfügung gestellt worden, so die
       Jugendverwaltung. Weitere 300.000 Euro seien für 180 Laptops und Zugänge
       zum IT-System der Jugendämter bereitgestellt. Aber: „Aufgrund von Corona
       und der veränderten Situation ab März 2020 in der Berliner Verwaltung
       konnten die Jugendämter die umfassende Anschaffung der Smartphones und
       Notebooks noch nicht abschließend umsetzen.“ Die während der Pandemie
       notwendige Infrastruktur kann also wegen der Pandemie nicht zur Verfügung
       gestellt werden.
       
       „Es scheint, dass bei entscheidenden Stellen noch nicht deutlich genug
       angekommen ist, dass der Sozialpädagogische Dienst im Jugendamt keine
       optionale Dienstleistung ist“, sagt Hannes Wolf vom DBSH. Es gehe hier
       nicht um Bescheide und Fristen, sondern um Familien, Kinder und Jugendliche
       in akuten Krisen. „Die Jugendämter sind die letzten in der Hierarchie, sie
       können ihren Auftrag nicht weiterdelegieren. Sie müssen bestmöglich
       ausgestattet werden“, sagt er.
       
       „Und es geht ja gerade erst los“, sagt Schlizio-Jahnke. Zum Jahresende
       mehrten sich die Krisen und Hilfesuchenden. Folgen der Pandemie, steigende
       Fallzahlen und sich verschärfende Kontaktbeschränkungen oder ein zweiter
       Lockdown sind da noch gar nicht einberechnet.
       
       28 Oct 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Manuela Heim
       
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