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       # taz.de -- Kunsttips der Woche: Weitermachen, Lassenmachen
       
       > Bei Zwinger erweist sich Weitermachen als Form des Erinnerns, Ross
       > Bleckner nähert sich dem „Mehr“ der Dinge und Fritz Balthaus publiziert
       > bei Merve.
       
   IMG Bild: Ross Bleckner, „Quid Pro Quo“, Capitain Petzel, 2020
       
       „Remember September“ heißt die aktuelle Ausstellung in der [1][Zwinger
       Galerie]. Klingt nach Nostalgieunternehmen? War doch September eine
       wichtige Galerieneugründung in den späten 2000er Jahren durch Oliver Körner
       von Gustorf und Frank Müller. Aber nein. Im Gegenteil, die Schau verdankt
       sich einem ganz vitalen Anliegen, ausgedrückt in der Aufforderung
       “weitermachen!“. Zu lesen steht sie auf dem Grabstein von Herbert Marcuse
       auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in der Invalidenstraße. Dort stießen
       Marc Brandenburg, Ursula Döbereiner und Oliver Körner von Gustorf auf sie,
       auf ihrem Weg zum Grab ihres Freundes, des Kurators Frank Wagner. Das war
       im Frühjahr während des ersten Aufkommens von Corona.
       
       Das Gebot weitermachen! führte da natürlich zur Frage, wie denn jetzt
       weiter machen? Und mündete schließlich in die Selbstbefragung: Wie haben
       wir eigentlich weitergemacht, seit dem Ende von September? Mit dem
       Alltagsleben und vor allem mit der Kunst? Die Antworten der vierzehn in der
       Schau vertretenen Künstler*innen, Bettina Allamoda, Tabea Blumenschein,
       Marc Brandenburg, Ursula Döbereiner, Kerstin Drechsel, Carsten Fock, Ogar
       Grafe, Henry Kleine, Frank Müller, Niklaus Utermöhlen, Sabina Maria von der
       Linden, Elmar Vestne, David Woitowycz und Flora Whitley sind
       abwechslungsreich und was das Weitermachen angeht, richtig spannend.
       
       Der seit Jahren an MS erkrankte Frank Müller macht etwa weiter, indem er
       stickt, und jetzt bespannt seine, auf modernistische Vorgänger
       referierende, Textilkunst die Sitzfläche eines Hockers. Marc Brandenburg
       zeichnet weiter. Das brandneue Stillleben eines Silberarmbands mit
       Metallica-Emblem ist vielleicht etwas opulenter als früher und etwas teuer
       sicher auch. Henry Kleine malt weiter, allerdings kommt seine Malerei nur
       noch sehr vermittelt – als Druck – auf die Leinwand, die 2020 aus luftigem
       PVC-Mesh ist, das die Malerei auf- und wegzusaugen scheint.
       
       ## Malerei in der Kategorie Raum
       
       Die Malerei ist auch Ross Bleckners Metier, ganz traditionell ausgeführt
       mit Öl auf Leinwand, freilich mit einem ganz eigenen, raffinierten Twist.
       Neben der ornamentalen Abstraktion, die wie eine Art überdimensionale,
       elegante Badezimmerfliese gesehen werden könnte, stehen Arbeiten die der
       Abstraktion wie der Figuration gleichermaßen zugerechnet werden könnten.
       Eigentlich aber fallen sie in die Kategorie des Raums. Denn so wie Ross
       Bleckner die Farbe – die mal müde und gedämpft ist, ein anderes Mal frisch
       ins Weiße strebt und wieder ein anderes Mal grell und heutig ist – auf die
       Leinwand setzt, entsteht Tiefe, entsteht Volumen, entsteht ein Raum, der
       einem umfängt.
       
       Irgendwie machen einem die Farben im Zusammenspiel mit der Grundierung
       Platz, man schlüpft ins Bild und wähnt sich in einem nächtlichen Weltall
       unterwegs oder in dem, mit weißen Wölkchen betupften, Himmel eines schönen
       Sonnentags. Bleckner, so heißt es in der Galerieankündigung von
       [2][Capitain Petzel], verweist mit seinem Werk auf „die Sehnsucht des
       Menschen nach dem metaphysischen Fluchtpunkt hinter der Welt der
       Erscheinung“.
       
       Großartigerweise kann er auch weniger philosophisch oder spirituell
       gestimmten Kunstbetrachtern zumindest das Seelenleben der Dinge offenbaren,
       das Mehr, das uns an die Erscheinungen bindet und uns zum sorgsamen Umgang
       mit ihnen verpflichtet: auch ihren Tod oder Untergang zu bedenken und nicht
       nur unseren eigenen.
       
       „Lassenmachen“ als Methode 
       
       Fritz Balthaus und Vincenz Sala sind für Kunstfreunde, die schon in den
       1990er Jahren unterwegs waren, geradezu ein Synonym. Neugierig, noch einmal
       zu schauen, was damals Thema war, bringt der Suchbegriff „Balthaus“ bei der
       Recherche im taz-Archiv den Artikel von 1988 „Virus, Virus, wo sind deine
       Regionen!“ zum Vorschein, der sich um die womöglich zu geringe
       Infektionsgefahr von Kunst sorgt, wobei Fritz Balthaus Aufnahmen des
       Herpes-Virus beisteuerte. 1991 berichtet dann Ulrich Clewing über die Schau
       „Opfer für Oper – Fritz Balthaus bei Vincenz Sala“. Allerdings liefert das
       Archiv nur noch die Headline, der Text selbst scheint verloren.
       
       Überraschenderweise dockt die aktuelle installative Installation von Fritz
       Balthaus [3][bei Sala] just an derlei Missgeschick an. Die große Wand, auf
       die man auch durchs Schaufenster blickt, ist mit den Druckbögen der
       deutschen Ausgabe von Brian O’Dohertys epochemachendem Essay „Inside the
       White Cube“ bedeckt, den Merve mit „In der weissen Zelle“ übersetzt hat.
       Beim Druck wurden dann irrtümlich einige Abbildungen verkehrt herum
       gedruckt. Balthaus bringt nun die nachfolgenden Druckbögen ebenfalls
       umgekehrt an der Wand an: Eine konzeptuell wie ästhetisch wirkungsvolle
       Irritation.
       
       Vor dieser Wand sitzt im Raum ein großes Gebinde mit einem weiteren
       Merve-Band, auf dessen Cover freilich zu lesen steht: Fritz Balthaus,
       Lassenmachen. Anlass der Installation ist also das Erscheinen von
       „Lassenmachen – was geht, kommt sowieso! Texte und Kontexte“ (so der ganze
       Titel) bei [4][Merve]. Und so erklärt sich auch die Form der Installation,
       denn das ist ein Grundprinzip des Künstlers: Balthaus findet die Ideen und
       auch die Materialien seiner Kunst immer im Naheliegenden.
       
       So baut er etwa am Ausstellungsort ein Wandstück aus, wobei er einen
       Ventilator freilegt. An die Decke gehängt ist die Wand nun ein „Luftbild“.
       Balthaus spricht von seiner Arbeitshaltung als „Lassenmachen“, als einer
       Methode, die vor allem dem „nicht Gemachten“ zu einer beobachtbaren
       Existenz verhelfen will. Mehr dazu natürlich im unbedingt lesenswerten
       Merve-Band.
       
       27 Oct 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://www.zwinger-galerie.de/
   DIR [2] https://www.capitainpetzel.de/exhibitions/
   DIR [3] http://www.vsala.com/Vincenz_Sala_current_shows.html
   DIR [4] https://www.merve.de/index.php/book/show/539
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Brigitte Werneburg
       
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