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       # taz.de -- Feministische Kunst in München: Bitte nicht berühren
       
       > Eine Ausstellung im Münchner Lenbachhaus zeigt emanzipatorische Kunst.
       > Sie reicht von den 1950er Jahren bis zur Post-Porn-Kunst.
       
   IMG Bild: Sturmgewehre, genäht: Michaela Meliáns „Mossberg Model Bullpup“ (1992)​
       
       Beschwörend blickt ein ruhiges Porträt mit neutralem Gesichtsausdruck ins
       Leere. Verhalten und poetisch ist die titelgebende Arbeit dieser
       Ausstellung: „Die Sonne um Mitternacht schauen“, ein Werkzyklus aus
       großformatigen HD-Filmprojektionen der Fotografin [1][Katharina
       Sieverding].
       
       Ein goldenes, übergroßes Frauengesicht steht im Zentrum der Installation,
       verschmilzt mit Bildern einer wissenschaftlichen Auswertungen der
       Sonnenaktivität, entnommen aus Open-Source-Daten des Nasa-Unternehmens SDO.
       Das Anliegen der Künstlerin schwingt im Titel mit: Durch die Erdrotation
       ist die Sonne um Mitternacht nicht zu sehen – doch die Sonnenaktivität ist
       allgegenwärtig und Zentrum allen Lebens.
       
       Die gleichnamige Schau im Münchner Lenbachhaus zeigt feministische Arbeiten
       aus dem eigenen Sammlungsbestand von 1958 bis heute. Pointiert wird das
       Augenmerk auf verschiedene Künstlerinnen und einige wenige Künstler gelegt,
       die sich mit der Allgegenwart von Rollenzuschreibungen und ihren sozialen
       Konsequenzen befassen.
       
       Sieverdings hintersinnige Arbeit aus dem Jahr 1988 zeigt in einprägsamer
       Weise die Verehrung der Frau – als Sonnengottheit – ebenso wie die
       Allgegenwart von Stereotypen, die selbst dann mitgedacht werden müssen,
       wenn sie zyklusmäßig verborgen sind.
       
       Andere, etwa die Wiener Aktionskünstlerin Valie Export oder auch die
       Post-Porn-Arbeiten von Tejal Shah, hinterfragen Geschlechterrollen
       vergleichsweise aggressiver. Die Bandbreite macht die Schau – in der auch
       Monica Bonvicini, Candice Breitz, AA Bronson, Isa Genzken, Flaka Haliti,
       Barbara Hammann, Judith Hopf, das Kollektiv General Idea, Annette Kelm,
       Barbara Klemm, Eva Kot’átková, [2][Michaela Melián], Senga Nengudi, Helga
       Paris, Friederike Pezold und Rosemarie Trockel ihren Platz finden –
       unberechenbar und sehenswert.
       
       ## Konturen weiblicher Körper
       
       Die Ausstellung setzt an bei der „Körperbewusstseinsmalerei“ der
       Österreicherin Maria Lassnig. In einer Zeit des Wiederaufbaus nach dem
       Zweiten Weltkrieg, in der Marylin Monroes und Jayne Mansfields
       Sanduhrfiguren zum Schönheitsideal wurden, zeichnete Lassnig in bunten,
       expressiven, vom österreichischen Informel geprägten Linien die Konturen
       weiblicher Körper nach.
       
       Der Körper selbst war nur vorgeblich Gegenstand ihrer Malerei. Darstellen
       wollte sie vielmehr das Empfinden, das sie damit verbindet: Die Linien
       lösen sich von der Silhouette, Farben dienen als Mittel, Gefühle
       auszudrücken.
       
       In den 1960er Jahren sind österreichische Künstlerinnen wie die Wienerin
       Valie Export und Friederike Pezold prägend für den europäischen
       feministischen Diskurs – dokumentiert in Videoinstallationen, Fotografien
       und filmischen Mitschnitten ihrer Aktionen. Der „male gaze“, der Blick des
       Mannes auf die Frau, wird ihr Thema.
       
       Im „Tapp- und Tastkino“ etwa, das Export unter anderem in der Münchner
       Stadtmitte am Stachus aufführt, greifen fremde Männerhände in einen Kasten
       vor ihrer Brust – der Mann, der Angreifer, schaut der Künstlerin in der
       surrealen öffentlichen Inszenierung in die Augen und wird von Passanten
       gesehen, während er ihre nackten Brüste befühlt.
       
       ## Signale per Telekinese
       
       Noch einen Schritt weiter geht Post-Porn-Kunst, die ebenfalls in Beispielen
       angerissen wird: In einem weißen Riemenanzug, der an Milla Jovovichs Kostüm
       im „Fünften Element“ erinnert, bewegen sich etwa von der indischen
       Künstlerin Tejal Shah geschaffene Fantasiegestalten durch eine
       Wüstenlandschaft. Erstmals wurde die Arbeit bei der documenta 13 im Jahr
       2012 gezeigt.
       
       Und auch hier wird das Motiv der Sonne aufgegriffen: Mit Blendspiegeln
       senden sich die stummen Körper Signale, bis sie zueinander finden –
       kriechend, per Telekinese oder in elliptischen Zeitverläufen. Und selbst
       wenn – ein Papierschildchen am Eingang hatte „vorgewarnt“ – es dann zu
       intensiveren Körperverschränkungen kommt, scheint ihnen eine wirkliche
       Begegnung unmöglich.
       
       Unvermittelt wechselt die Szenerie, statt in karger Natur befindet sich das
       Frauenpaar auf dem eingenetzten Balkon einer heruntergekommenen
       Plattenbausiedlung. Mit konisch zulaufenden weißen Hüten penetrieren sich
       die Frauen, Granatapfelkerne werden im Schamdreieck verarbeitet,
       Assoziationen an Menstrutionsblut oder die Verletzung nach einer
       Vergewaltigung drängen sich auf.
       
       ## Glattrasierte Säugetiere
       
       Den sexy Körperbildern, der vorgezeichneten Rollenverteilung und
       stereotypen Abläufen des Mainstreampornos, der sich in unterschiedlichen
       Brutalitätsabstufungen halt doch in ein Korsett dessen presst, was
       glattrasierten Säugetieren physisch möglich ist, setzt Shah eine
       übergeordnete Vision von Nähe entgegen, die sich durch sexuellen Austausch
       künstlerisch darstellen lässt – aber im Grunde nicht besonders viel mit
       Ineinanderkriechen zu tun hat.
       
       Vielmehr wird eine Distanzierung und Abgrenzung erreicht – wie auch durch
       die sadomasochistischen Verkleidungen, die Fotografien von Cindy Sherman
       einsetzen. Oder die bunten Linien der eingangs erwähnten Lassnig.
       
       In einer Zeit, in der Begegnung schon durch äußere Zwänge unmöglich gemacht
       wird, schafft die Schau so unverhofft einen Raum, um über
       Geschlechterbilder nachzudenken – und darüber, dass anfassen nicht berühren
       ist.
       
       4 Dec 2020
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Johanna Schmeller
       
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