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       # taz.de -- Library Music von Morricone und Nicolai: Mit jedem Ton in neue Gefilde
       
       > „Dimensioni sonore“, Meisterwerk der Filmmusik von Ennio Morricone und
       > Bruno Nicolai, wird wieder veröffentlicht – beste Library-Musik.
       
   IMG Bild: Ennio Morricone (1928-2020), berühmter Filmkomponist, aber auch Schöpfer von Library Music
       
       Nach seinem Tod am 6. Juli 2020 wurde Ennio Morricone in zahlreichen
       Nachrufen ob seiner Musik für Spaghetti-Western gehuldigt, obwohl diese
       Soundtracks nur ein Bruchteil seines filmmusikalischen Œuvres ausmachen.
       Morricones Palette war wesentlich breiter, es gibt kaum einen Stil vom
       Barock bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, den der Maestro nicht perfekt
       beherrscht oder grandios adaptiert hätte: Klassik, Schlager, Jazz, Neue
       Musik, Beat, Bossa nova und Samba, elektronische Musik, psychedelische
       Rockmusik, Folk, freie Improvisation, Disco – durch zahlreiche
       Wiederveröffentlichungen wurde Morricones breites musikalisches Spektrum
       zuletzt endlich ins rechte Licht gerückt.
       
       Auch die Werke seiner Improvisationsgruppe Nuova Consonanza, in der sich
       Morricone mit avantgardistischer Gesinnung der Experimentalmusik widmete,
       sind inzwischen wieder erhältlich. Was noch fehlte, war die spezifische
       Form von ausgedehnter Klangforschung und Abstraktion, die Morricone in
       manchen [1][Soundtracks] der frühen 1970er Jahre schon angedeutet, aber
       erst in seinen Library-Produktionen vollendet hat.
       
       Unter dem Titel „Dimensioni sonore. Musiche per l’immagine e
       l’immaginazione“ veröffentlichte die Plattenfirma RCA Italiana im Oktober
       1972 eine zehnteilige LP-Anthologie, je fünf Alben mit Musik von [2][Ennio
       Morricone] und Bruno Nicolai – beide Komponisten zeichneten für die hier
       versammelten 103 Stücke verantwortlich. Dazu später mehr.
       
       Library-Produktionen wie „Dimensioni sonore“ sind tatsächlich nie im
       klassischen Sinne „erschienen“ – das tun sie erst jetzt in Form der Wieder-
       bzw. Erstveröffentlichung auf dem Tonträgermarkt. Denn die bis heute
       existente Sparte der [3][Library- oder Produktionsmusik] bezeichnet
       Musikaufnahmen, die nicht kommerziell erhältlich sind, stattdessen nur in
       der Medienbranche als Gebrauchsmusik zirkulieren.
       
       Library-Musik wird quasi vorab auf Halde produziert und imaginiert dabei
       Situationen in Spielfilmen, Dokumentarfilmen, Reportagen, Sportsendungen,
       Games oder in der Werbung, die sie musikalisch illustriert. Heute fast
       ausschließlich digital vertrieben, existierte Library-Musik in ihrer
       Hochphase von Mitte der 1960er bis Ende der 1980er Jahre in Form von
       Vinyl-Platten, die nicht selten einer Thematik („Suspense“, „Romance &
       Drama“, aber auch „Forest 0f Evil“, „Musica e Ambiente“ oder „Societa
       Malata“) folgten und deshalb auch als Vorläufer sogenannter Konzeptalben
       in der Popmusik betrachtet werden können.
       
       Andere Library-Alben boten von allem etwas, wobei die kompilierten Tracks
       mit benutzerfreundlichen Hinweisen zu Instrumentierung, Tempo und möglichem
       Verwendungszweck (etwa „für Stadtpanoramen und Autobahnen geeignet“)
       versehen waren. Library-Musik war immer eine musikalische Spielwiese mit
       selbst erfundenen Genres, abenteuerlichen Klangexperimenten, irren
       Soundeffekten; sie war ein Testfeld für neue Instrumente (etwa
       Rhythmusmaschinen und Synthesizer).
       
       ## Musik als Experimentierfeld
       
       Interessanterweise hat sich neben der französischen vor allem die
       italienische Library-Musik der späten 1960er und frühen 1970er Jahre am
       weitesten vom funktionalistischen Korsett entfernt und diese Musiksparte
       dezidiert als Experimentierfeld wenn nicht als Paralleluniversum für
       seriöse Albenveröffentlichungen begriffen.
       
       Dies gilt insbesondere für die Musik von Morricones römischen
       Komponistenkollegen Piero Umiliani, Egisto Macchi, Alessandro Alessandroni
       und eben Bruno Nicolai. Seit ihrem gemeinsamen Studium am Konservatorium
       Santa Cecilia in Rom und später in den Funktionen als Arrangeur und
       Sessionmusiker bei RCA Italiana waren Morricone und Nicolai als Kollegen
       freundschaftlich verbunden. Ein symbiotisches Verhältnis entwickelte sich
       ab 1966, als Nicolai bei Morricones Filmmusik für „The Good, the Bad & the
       Ugly“ arbeitsteilig das Orchester dirigierte – was er fortan, von wenigen
       Ausnahmen abgesehen, bis 1974 fortsetzte.
       
       Auch an der geteilten Autorenschaft bei allen Titeln ersichtlich, lässt
       sich die Musik auf „Dimensioni sonore“ als Höhepunkt ihrer Kollaboration
       betrachten – mit der das Gespann Morricone/Nicolai außerdem die
       Gepflogenheiten der Library-Sparte komplett negierte: Alle zehn Alben
       heißen gleich, es gibt keine benutzerfreundlichen Hinweise zur Musik sowie
       maximal nüchterne Track-Titel (zum Beispiel „Frequenza“, „Dinamico“ oder
       „Inversione“). So können sich ZuhörerInnen in die ebenso expansive wie
       hermetische Klangwelt versenken und dabei eigene Bilder und Vorstellungen
       entstehen lassen.
       
       ## Immersives Rezeptionsmodell
       
       Dieses immersive Rezeptionsmodell zielt eindeutig auf „Deep Listening“ und
       weniger auf mediale Verwendungszwecke. Dementsprechend spekuliert der
       Musikologe Maurizio Corbella im Booklet zur aktuellen
       Wiederveröffentlichung, dass die Plattenfirma RCA wohl erwogen habe, die
       zehn LPs als reguläre Alben zu veröffentlichen, wofür auch die Ausstattung
       mit Liner Notes von Sergio Leone, Pier Paolo Pasolini und Elio Petri
       spräche. Vermutlich aus vertraglichen Gründen habe man diesen Plan aber
       wieder aufgegeben.
       
       Die 103 Stücke der „Dimenioni sonore“ kombinieren das Instrumentarium von
       klassischer Musik und Rock mit damals neuen Instrumenten wie dem
       Synket-Synthesizer mit einer Selbstverständlichkeit, die ihresgleichen
       sucht. Auffällig ist eine ebenso streng kammermusikalische wie luftig
       improvisatorische Anmutung der Musik – so, als taste man sich sehr bewusst
       mit jedem Ton in neue Gefilde vor.
       
       Dabei gehorcht sie einer strikt antiexpressiven Ästhetik, setzt stark auf
       Texturen und lotet das Spektrum von Klangfarbenmalerei voll aus. Das rückt
       sie in ruhigen Momenten in die Nähe von Ambient, wovon ihr rhythmischer
       Dynamismus und ihre harmonische Komplexität (tonal, atonal, modal,
       polytonal) sie wieder abrückt. Eine Atmosphäre von Spannung und Erwartung
       durchzieht alle Tracks.
       
       ## Baustein melodische Percussion
       
       Es gibt diverse Bausteine im Gesamtsound: melodische Percussion wie Marimba
       und Vibraphon; atonale Streicherpassagen; an elektronische Musik erinnernde
       Frequenzen des Cembalos; Giallo-Jazz- und Jazz-Funk-Rhythmen; die
       abgehackten Gitarrenlicks und Fuzzeffekt-Orgien des Gitarristen Bruno
       Battisti D’Amario; der fräsende Sound des Synket-Synthesizers (gespielt von
       Walter Branchi) und die betont unfunky gespielten Rhythmus-Studien von Enzo
       Restuccia (ansonsten ein funky Drummer vor dem Herrn!).
       
       Tracks klingen wie alternative Versionen oder Variationen anderer Stücke.
       So entsteht der Eindruck eines kaleidoskopisch aufgefächerten
       Musikmaterials, das jeweils aus verschiedenen Perspektiven und mit
       unterschiedlicher Akzentuierung interpretiert wird. Grund dafür ist das von
       Ennio Morricone Ende der 1960er Jahre entwickelte Prinzip der multiplen
       bzw. modularen Komposition.
       
       In Grundzügen hatte Morricone diese Methode schon in seinen ersten drei
       Giallo-Soundtracks für den Regisseur Dario Argento angewendet, nicht
       zuletzt, um sich selbst beim Komponieren noch zu überraschen. In der
       gemeinsam mit Alessandro de Rosa verfassten Autobiografie „In His Own
       Words“ sagt Morricone dazu: „Die multiplen bzw. modularen Filmmusiken
       ermöglichten es mir, mich für das Unvorhersehbare, für die Improvisation zu
       öffnen. Dennoch ist es organisierte Improvisation. Jede einzelne Note ist
       niedergeschrieben, aber die Kombinationsmöglichkeiten sind zahlreich. Es
       ist ein Konzept mit unzähligen Facetten.“
       
       ## „Die Arbeiterklasse fährt ins Paradies“
       
       Bei vielen Morricone-Soundtracks der frühen 1970er Jahre findet sich dieses
       modulare Prinzip, erweitert durch den Einsatz von Effektgeräten, Tonbändern
       und dem Synket – zum Beispiel in Damiano Damianis Gefängnisfilm „Das
       Verfahren ist eingestellt – Vergessens Sie’s!“ (1971), Elio Petris „Die
       Arbeiterklasse fährt ins Paradies“ (1971) und „Das Attentat“ (1972) von
       Yves Boisset. Von Morricone entwickelt und in der Praxis von Nicolai als
       Dirigent ausgeführt, scheint sich auch Nicolai dieser Methode bei eigenen
       Kompositionen bedient zu haben, mutmaßt Maurizio Corbella im Booklet zu
       „Dimensioni sonore“.
       
       Das hier vorherrschende modulare Prinzip wird kongenial erweitert durch den
       Einsatz des 16-spurigen Mischpults als kompositorisches Werkzeug, etwa bei
       Stücken wie „Proporzionale“ oder „Studio“. Auf diese Weise schufen
       Morricone und Nicolai eine abstrakte Klangfarben-Musik, die aus
       verschiedenen Schichten zusammengesetzt ist und in der einzelne Passagen
       oder Instrumente je nach Bedarf ein- oder ausgeblendet werden.
       
       Für Alessandro de Rosa kommt Morricone hier eine bedeutende Vorreiterrolle
       zu: „Das ist wirklich interessant, denn heute wird Musik für Videospiele
       auf diese Art und Weise mit Schichten komponiert. Es ist ziemlich
       futuristisch, dass Morricone hier schon eine aktuelle Kompositionsmethode
       vorwegnimmt.“ Aber das wäre noch nicht alles. Die Idee, dass aufgenommene
       Musik aus Variablen besteht, die via Mischpult endlos unterschiedlich
       akzentuiert und miteinander kombiniert werden können, reifte nur sehr kurze
       Zeit später in Jamaika zu einer Sound-Ästhetik heran, die in Formvollendung
       als Dub um die Welt gehen sollte.
       
       4 Nov 2020
       
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