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       # taz.de -- Nach Waffenstillstand in Bergkarabach: Nur die Asche ihrer Häuser bleibt
       
       > Armenien muss ein erstes Gebiet an Aserbaidschan abtreten. Menschen
       > fliehen in Autokolonnen aus der Region Kalbadschar ins nahe Armenien.
       
   IMG Bild: Bevor sie Kalbadschar in Bergkarabach verlassen, setzen Bewohner*innen ihre Häuser in Brand
       
       Berlin taz | Armenien hat den [1][Krieg um Bergkarabach verloren]. Nun
       verlassen Armenier*innen ihre Häuser in Kalbadschar (armenisch:
       Karwatschar). Bis zum 25. November muss Jerewan die Kontrolle über diesen
       Bezirk an Aserbaidschan abgeben. Dort sind mittlerweile russische
       Friedenstruppen stationiert. Laut Waffenstillstandsabkommen müssen danach
       auch die Bezirke Aghdam (bis zum 20. November) und Laschin (bis zum 1.
       Dezember) an Aserbaidschan abgetreten werden.
       
       Tausende haben sich in Kalbadschar buchstäblich im letzten Moment auf den
       Weg nach Armenien gemacht. Ihr Zuhause freiwillig zurückzulassen kommt für
       viele einem Selbstmordversuch gleich, nach dem man am Leben bleibt.
       
       Die Region ist eines der sieben umstrittenen Gebiete um Bergkarabach und
       grenzt direkt an Armenien. Kalbadschar hat 16 Dörfer mit 3.600 Einwohnern.
       „Ich werde nie verstehen, warum wir unsere Häuser verlassen sollen. Denn
       wir haben den Feind in Karwatschar nicht einen einzigen Zentimeter
       vorrücken lassen“, sagt Kolya Shahgeldyan.
       
       Der junge Dichter, der mit seinem Bruder seine Heimat in den Bergen mit
       Waffen verteidigt hat, packt nun die Koffer. „Mein Kopf mag verstehen, aber
       mein Herz und meine Augen weinen“, sagt er und fügt hinzu: „Mein einziger
       Trost ist, dass mein Bruder und ich überlebt haben.“
       
       ## Mit der Schafherde zu Fuß nach Armenien
       
       Hunderte von Autos fahren bis zur Nacht auf Sonntag in Richtung Armenien.
       Alles wird abtransportiert – in voll gepackten Autos und auf
       Dachgepäckträgern: ein Kühlschrank, Töpfe, Teppiche, ein Bienenstock, eine
       Handvoll Äpfel aus dem eigenen Garten. Eine Familie transportiert Haustüren
       und Fenster ab. Eine andere Familie hat getrocknetes Heu auf einen
       Lastwagen geladen. Hirten führen Kuh- und Schafherden nach Armenien, zu Fuß
       und durch die Berge. Wie lange das dauern wird? „Das ist nicht mehr so
       wichtig“, sagt einer.
       
       Die fliehenden Menschen nehmen alles aus ihren Häusern mit, was sie nur
       irgendwie tragen oder transportieren können. Doch ihre Hoffnung lassen sie
       zurück, genauso wie ihre Zukunft. „Es gibt keine Rückkehr mehr“, heißt es
       von vielen. Niemand vermag zu sprechen, die Menschen weinen und schweigen.
       Sie wissen nicht, was mit ihnen geschehen wird, wo sie morgen schlafen
       werden und wie sie weiterleben können. Sie wissen aber auch nicht, ob ihre
       Söhne, die noch an der Front sind, leben.
       
       Seit dem [2][Beginn der Kämpfe Ende September] sind laut neuen offiziellen
       Angaben wesentlich mehr Menschen ums Leben gekommen, als bisher bekannt
       war. Die armenische Seite meldet 2.317 Tote. Inoffiziell sollen es doppelt
       so viele sein. Das Gesundheitsministerium in Jerewan meldet, dass der
       Austausch der Leichen getöteter Soldaten gerade erst begonnen habe.
       Armenien könne endgültige Zahlen daher derzeit nicht nennen. Die Behörden
       in Baku machen zu ihren Verlusten weiterhin keine Angaben.
       
       In Bergkarabach lebten vor dem Ausbruch der jüngsten Kämpfe vor rund sechs
       Wochen etwa 150.000 Menschen. Die große Mehrheit ist nach Armenien
       geflohen. Tausende Geflüchtete haben keine Unterkunft – sie übernachten bei
       Freunden, Bekannten, in Hotels und alten Containern.
       
       Die Menschen sind alleingelassen. Sie sind nicht nur heimat-, sondern auch
       obdachloslos geworden. Die Regierung hat anderes zu tun, als sich um diese
       Probleme zu kümmern. Die [3][Opposition in Jerewan versucht Premierminister
       Nikol Paschinjan zu stürzen], weil er „durch ein drakonisches Abkommen das
       ganze Volk verraten hat“. Sie mobilisiert Menschen für Demonstrationen in
       der Hauptstadt.
       
       In Kalbadschar passiert unterdessen Unvorstellbares.
       
       Ein Dorfbewohner gräbt das Grab seines Sohnes aus, holt den verfaulten Sarg
       seines Sohnes heraus, um ihn mitzunehmen. Der Schulleiter einer Dorfschule
       verbrennt Schulhefte, Notizbücher und Bilder seiner Schüler*innen, damit
       die Namen und Bilder der Kinder nicht von den Aserbaidschaner*innen in den
       Schmutz gezogen werden. Dann brennt er die Schule nieder und setzt auch
       sein eigenes Haus in Brand. Überall sind Granatäpfelgärten. Aber jemand
       anderes wird die Ernte demnächst einfahren.
       
       ## Abschied vom Kloster
       
       Eine ältere Frau arbeitet auf ihrem Kartoffelacker. Sie hat keine Eile und
       scheint nicht zu wissen, was um sie herum passiert. „Ich werde mein Haus
       nie verlassen“, sagt sie Journalist*innen, die sie als „Verrückte“
       filmen. „Was sollen Aserbaidschaner mir schon antun? Ich habe meine Angst
       längst verloren. Ich bleibe hier!“
       
       Bleiben will auch Pater Hovhannes, der Priester von Dadiwank. Der
       Klosterkomplex, zwischen dem 9. und 13. Jahrhundert erbaut, ist ein
       wichtiges Zentrum der Armenischen Apostolischen Kirche. Viele kommen gerade
       jetzt extra nach Dadiwank. Einer zündet eine Kerze an, andere küssen die
       Wand, jemand füllt seine Tasche mit einer Handvoll Erde vom Kirchhof.
       
       Viele sind gekommen, um Abschied zu nehmen. Sie lassen sich taufen. Einige
       junge Paare heiraten noch schnell in dem Kloster. Pater Hovhannes darf
       nicht weinen, er muss seine Gemeinde trösten. „Herr, erbarme dich!“, sagt
       er und seine tiefe Stimme hallt in der ganzen Klosteranlage wieder.
       
       Es sollen bereits 800 Jahre alte Kreuzsteine und Kirchenschätze nach
       Armenien gebracht worden sein. Die Sorgen waren nicht unbegründet. Im Netz
       zirkulieren Videos, die zeigen, wie aserbaidschanische Soldaten armenische
       Kirchen in den Regionen entweihten, die sie während des Krieges erobert
       haben. Bereits 2005 hatte Aserbaidschans Regierung armenische Kreuzsteine
       in Nachitschewan zerstören und vernichten lassen.
       
       Am Sonntag kommt aus Etschmiadsin, dem Sitz der Armenischen Apostolischen
       Kirche, die Nachricht, dass das Dadiwank-Kloster unter der Kontrolle
       russischer Friedenstruppen bleiben soll. Es gibt einen Spruch auf
       Armenisch: „Es ist ein Trost für das versteinerte Herz.“
       
       15 Nov 2020
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Tigran Petrosyan
       
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