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       # taz.de -- Künstler über Aktionismus in der Pandemie: „Wir sind ja alle gestört“
       
       > Künstler Christian Jankowski macht auf Menschen mit systemrelevanten
       > Berufen aufmerksam. Er stiftet eine Arbeit für die Kunstlotterie der UNO.
       
   IMG Bild: Christian Jankowskis Familienaufstellung, an der er mit seinem Bruder gearbeitet hat
       
       Mitte September sorgte der Künstler Christian Jankowski für Aufsehen. In
       mehreren TV-Sendungen ließ er Personen in Schutzkleidung erscheinen, die
       sich geisterhaft im Hintergrund bewegten. Es waren Menschen, die in
       sogenannten „systemrelevanten Berufen“ arbeiten. Jankowski, der sich in
       seiner Kunst schon oft mit Berufen beschäftigte, wollte auf deren spezielle
       Situation aufmerksam machen.
       
       Auch für seinen Beruf hatte die Pandemie Folgen: Zur Bangkok Art Biennale,
       bei der er 2020 teilnimmt, konnte er nicht anreisen, seine
       Einzelausstellung bei Fluentum wurde vorrübergehend geschlossen. Aktuell
       arbeitet er in Berlin an einem Katalog – und er stiftete als einer von 100
       Künstler*innen eine Arbeit für die Kunstlotterie zugunsten der
       UNO-Flüchtlingshilfe. Noch bis zum 24.11. können dafür Lose gekauft werden.
       
       taz: Herr Jankowski, Anlass unseres Gesprächs ist die Kunstlotterie der UNO
       zugunsten der Flüchtlingshilfe. Was kann man dort von Ihnen gewinnen? 
       
       Christian Jankowski: Ich habe eine fotografische Arbeit beigesteuert, die
       bei einer Performance zur Montevideo Biennale 2012 entstanden ist. Die
       Teilnehmer, die eigentlich kamen, um eine Performance zu sehen, wurden mit
       Masken vor den Augen auf den Berg von Montevideo hochgeleitet, und zwar
       nicht von irgendwem, sondern von Journalisten aus der Stadt. Diese
       leisteten gleichzeitig Hilfestellung und erstatteten in ihren Zeitungen
       Bericht. Das ergab ein Bild, das ein wenig an den „Blindensturz“ von
       Bruegel erinnert: Eine Gruppe von Blinden wird medial in ihrer Zeit
       festgehalten.
       
       Die Arbeit heißt „Orientación“. 
       
       Mit Orientierung hat die Performance tatsächlich viel zu tun. Oben auf dem
       Berg wurden die Teilnehmer gebeten, sich nach Osten zu drehen. Jeder hat ja
       seine eigene Kompassnadel in sich, aber nachdem sie sich maskiert zu ihrem
       inneren Osten bewegt haben, haben natürlich alle in verschiedene Richtungen
       geguckt. Mir ist dieses Foto in den Sinn gekommen, als ich von der Aktion
       gehört habe.
       
       Warum? 
       
       Weil die Arbeit Menschen zeigt, die in Bewegung sind und dabei Hilfe
       benötigen – und andere Menschen, die versuchen behilflich zu sein. Die
       Journalisten in diesem Fall.
       
       Mit Journalisten hat auch die Aktion zu tun, mit der Sie kürzlich auf sich
       aufmerksam gemacht haben: Sie haben in verschiedenen TV-Sendungen wie dem
       „heute journal“ engelhafte Personen mit systemrelevanten Berufen auftreten
       lassen. Wie kamen Sie darauf? 
       
       In der Pandemie fielen diese Systemrelevanten plötzlich auf. Für mich waren
       es die Leute, die ich außerhalb meines Familienkreises noch gesehen habe.
       Generell habe ich großes Interesse an Berufen, und in all meinen Arbeiten
       spielen spezifische Perspektiven auf das Leben und die Welt eine
       entscheidende Rolle. Auch meine hat sich durch Corona massiv geändert. Auf
       einmal wurde Berlin, mein Atelier, meine Wohnung der zentrale Ausgangspunkt
       für mein Denken. Auch für diese Arbeit, die zur Bangkok Art Biennale
       entstanden ist.
       
       Diese Biennale läuft seit Oktober, konnten Sie dort hinreisen? 
       
       Natürlich nicht. Auch in der Vorbereitung konnte ich mit der chinesischen
       Co-Kuratorin nur per WhatsApp und Skype kommunizieren. Viele dieser
       Kommunikationsformate sind in China nicht ganz legal. Kommunikation,
       Erreichbarkeit war plötzlich selbst digital nicht mehr selbstverständlich.
       Das Virus hingegen lauerte potentiell überall. Das hat alles dazu geführt,
       dass mich die Systemrelevanten immer mehr interessiert haben, weil das
       System offensichtlich nicht mehr sicher war. Ich wollte diejenigen in den
       Massenmedien reden lassen, über die plötzlich so viel von anderen geredet
       wurde.
       
       Wie waren die Reaktionen? 
       
       Besonders nach dem Auftritt im „heute journal“ wurde auf Twitter viel
       diskutiert. Es hat auf jeden Fall eine Störung verursacht. Und das passt
       gut. Wir sind ja auf eine Art alle gestört in unserem Alltag, gekränkt,
       verunsichert und zum Umdenken gezwungen. Mir ging es darum, dieses Moment
       der globalen Ungewissheit facettenreich in ein Werk zu überführen.
       
       Wie haben Sie die Systemrelevanten, mit denen Sie gearbeitet haben, denn
       gefunden? 
       
       Mit meinem Postzusteller ging es los. Der stand hier, hat ein Paket
       abgegeben und ich habe ihn gefragt: Kann ich ein Interview mit Ihnen
       machen? Genauso war es mit der Apothekerin, die unten an der nächsten Ecke
       ihre Apotheke hat und für mich in „Soko Leipzig“ aufgetreten ist. Gegenüber
       bei Edeka arbeitet Björn, der später bei „Aspekte“ herumspukte. In früheren
       Arbeiten habe ich mir Magier aus Belgien oder Vatikanmitarbeiter als
       Protagonisten gesucht. Corona hat diejenigen in meinen Fokus gerückt, die
       für mich noch unmittelbar erreichbar waren. Die Einflussnahme von Menschen,
       die sich in die Werke einschreiben, zu Co-Autoren werden, ist fundamental
       für meine Arbeit.
       
       Apropos Berufe: Inwiefern hat die Pandemie Ihren eigenen verändert? 
       
       Vor Corona habe ich mehr aus dem Koffer gelebt. Ich reise zwar immer noch,
       aber die Zeit, die ich in Zoom-Meetings, Skype- oder Teams-Konferenzen
       sitze, hat extrem zugenommen. Weniger zu tun habe ich persönlich nicht. Ich
       würde sagen, ich kann mich gut auf unterschiedliche Situationen einstellen,
       mit dem improvisieren, was da ist, auch mit Geschichten, die in der eigenen
       Biografie herumliegen.
       
       Zum Beispiel? 
       
       Ich habe jetzt eine Ausstellung in Bukarest mit dem Kuratorenteam Quote –
       Unquote in der Suprainfinit Gallery eröffnet: „Healing Games“. Dafür habe
       ich mit meinem Bruder zusammen eine Arbeit gemacht. Wir haben zu zweit mit
       Motorsägen aus großen Baumstämmen vier figurative Skulpturen gesägt, sie
       auf Rollen gestellt und im Galerieraum eine Familienaufstellung gemacht.
       Papa, Mama und uns selbst, die beiden Brüder. Mich erinnern sie formal an
       den deutschen Expressionismus und an Baselitz. Mit einem rumänischen
       Therapeuten haben wir diesen Prozess jedoch therapeutisch begleitet und
       dadurch natürlich das Werk zusätzlich mit Bedeutung aufgeladen.
       
       Ist Ihr Bruder auch Künstler? 
       
       Nein, mein Bruder ist seit vielen Jahren arbeitslos. Ich habe mit ihm seit
       der Kindheit nie wieder eine so intensive Zeit gehabt wie jetzt, als wir
       ein paar Tage und Nächte lang zusammen die Skulpturen gesägt haben. Das war
       eine extrem physische Arbeit, aber auch eine Rückbesinnung auf die
       Kindheit, die durch unsere Gespräche und das Aufeinander-angewiesen-Sein
       auf einmal ganz im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand.
       
       Familie ist ja auch ein Thema, das durch die Pandemie stärker in den Fokus
       gerückt ist. 
       
       Ich habe tendeziell immer vor der Familie Reißaus genommen, mein Bruder war
       der „Bewahrer der Familiengeschichte“, wie sich durch das neue Werk klar
       herausstellte. Was in Rumänien entstanden ist, ist einerseits eine
       Einzelgeschichte, aber natürlich hat jeder Papa, Mama, manchmal auch
       Geschwister. Die Besucher sind dazu eingeladen, die Skulpturen zu
       verschieben und neue Konstellationen zu schaffen. Der Therapeut kommt nun
       übrigens auch mit seinen Patienten in die Galerieräume und nutzt sie als
       Praxis.
       
       Konnte die Ausstellung in Bukarest ganz normal öffnen? 
       
       Ganz normal geht ja nichts mehr. Neuerdings nennt man das Soft Openings,
       das ging von 15 bis 23 Uhr. Ich war überrascht, wie viel da los war.
       
       Ist bei Ihnen sonst viel abgesagt worden? 
       
       Manches wurde verschoben. Es ist aber nicht viel weggefallen. Kurz nach der
       Einladung zur Bangkok Art Biennale habe ich den Sammler Markus Hannebauer
       kennengelernt. Der ist für die Arbeit für Bangkok als Co-Produzent
       eingestiegen und hat mich in seinen Berliner Ausstellungsraum Fluentum
       eingeladen. So hatte ich auch den Sommer über viel zu tun.
       
       Viele Ihrer Kolleg*innen hat die Krise stark getroffen, auch finanziell.
       Was denken Sie, müsste der Staat hier mehr unterstützen? 
       
       Natürlich halte ich Kunst für systemrelevant. Auch wenn ich nachvollziehen
       kann, dass das jemand, der an einem Beatmungsgerät hängt, nicht genauso
       empfindet. Ich halte Kunst für unsere Kultur und Gesellschaft für
       fundamental wichtig. Es ist nicht von ungefähr, dass meine Ausstellung in
       Rumänien „Healing Games“ heißt. Kunst ist auch ein „Healing Game“, eine
       Einladung, unterschiedliche, ureigene Wege zu finden, der verändernden Welt
       zu begegnen. Was das Schicksal von Kollegen angeht, bin ich daher der
       Meinung, dass alle unterstützt werden sollen vom Staat. So viel,wie es
       geht.
       
       18 Nov 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Beate Scheder
       
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