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       # taz.de -- Unser Schulsystem in Zeiten der Pandemie: Unter Dampf
       
       > Eltern interessieren sich hierzulande nicht für die Gemeinschaft, sondern
       > nur für ihr Kind. In der derzeitigen Situation ist das ein Supergau.
       
   IMG Bild: Helikoptereltern gibt's in der BRD schon lange: Szene aus einer Stuttgarter Grundschule im Jahr 2014
       
       Als ich an meinem ersten Elternabend in einem westdeutschen Kindergarten
       teilnahm, war ich etwas erstaunt: Es ging weniger bis gar nicht um die
       Belange der Gruppe, sondern hauptsächlich um die des einzelnen Kindes.
       Meine Tochter. Mein Sohn. Mein Kind. Hat, braucht, möchte nicht.
       
       In der Schule verschärfte sich diese Situation, und ich durchlitt die
       Elternabende mit einem andauerndem Herzrasen, ich sah mich nicht in der
       Lage, mich zu Wort zu melden, da ich in den meisten Fällen andernfalls
       drohte, ausfallend zu werden.
       
       Ich komme aus einer Gesellschaft, in der die Gemeinschaft über das
       Individuum gestellt wurde. Dieses Projekt ist gescheitert und das ist hier
       nicht das Thema. Aber wie, frage ich mich noch immer, soll eine
       Gesellschaft funktionieren, in der sich die Menschen nur dafür
       interessieren, dass es „ihrem Kind“ gut geht? In der das eigene Kind als
       Erweiterung des eigenen Ichs angesehen wird, und in der alles, wirklich
       alles dafür getan werden muss, dass dieses Ich in seinen individuellen
       Bedürfnissen befriedigt wird?
       
       Ich bin in einem System aufgewachsen, in dem die Schule eine
       respekteinflößende Institution war, eine Vorbereitung auf die
       Staatsbürgerschaft. Lehrer*Innen waren Respektspersonen, denen man nur
       selten widersprach. Elternabende waren dafür da, die Eltern zu informieren,
       über organisatorische, schulische Belange oder über Probleme, die das Kind
       machte, weil das Kind sich falsch benahm.
       
       Jetzt haben wir ein in etwa entgegengesetztes System. Eltern genehmigen es
       dem Staat gnädig oder ungnädig, das eigene Kind zu unterrichten. Die
       Kompetenz von Lehrer*innen wird von Eltern und Schüler*innen immerfort
       angezweifelt. Elternabende sind dazu da, dass Eltern sich über die
       schlechte Behandlung ihres Kindes beschweren können. Wenn das Kind eine
       schlechte Arbeit geschrieben hat, muss die Arbeit zu schwer, das Kind zu
       schlecht darauf vorbereitet worden sein. Dem Kind selbst wird keine
       Verantwortung für sein Handeln auferlegt. Das Kind kann gar nichts falsch
       machen, weil das Kind ja mein Kind ist.
       
       Jetzt haben wir den Supergau in diesem netten Schulsystem, wir haben eine
       Pandemie, die erfordert, dass wir Rücksicht nehmen. Im Schulsystem der DDR,
       das ich sonst in vielen Punkten ablehne, wäre das nahezu problemlos
       verlaufen. Wir waren es gewohnt, uns hinten anzustellen. Unser derzeitiges
       Schulsystem hier ist in derartigen Extremsituation ein Dampfkessel.
       
       Wie soll auf die Probleme jedes „mein Kind“ eingegangen werden, angesichts
       der diversen nagelneuen Schwierigkeiten, die auf die Schulleitung, die
       Lehrer*innen und auf Eltern und Kinder zukommen? Als Blitzableiter sehen
       sich die Schulleitungen. Obwohl sie über die Maskenpflicht gar nicht
       entscheiden, müssten sie sie verteidigen. Sie sehen sich Hass und Wut
       gegenüber.
       
       An der Ida-Ehre-Schule in Hamburg gab es letzte Woche einen
       Corona-Massentest, aufgrund eines immer unkontrollierbareren Ausbruchs. Das
       kommt vor und wird weiter vorkommen. Aber diese Probleme lassen sich nicht
       durch Pöbeleien und Vorwürfe lösen, sondern nur, indem jeder seine
       privaten, vielleicht gar nicht mal so wichtigen Probleme für sich behält,
       damit die Schulleiter*innen und Lehrer*innen sich mit den wirklich
       wichtigen Dingen beschäftigen können. Wie man die Lehrer*innen und
       Schüler*innen schützen und ein sinnvoller Unterricht durchgeführt werden
       kann, bei dem die Schüler*innen etwas lernen.
       
       Darum sollte es gehen und nicht darum, dass Lehrer X eine Klassenarbeit zu
       spät für „mein Kind“ angekündigt hat, mäh, mäh, nicht darum, dass „mein
       Kind“ sich mit der Maske nicht so gut fühlt – ich fühl mich auch nicht gut
       mit der Maske, niemand fühlt sich gut damit. Aber es ist keine Katastrophe.
       Es ist ein kleiner Beitrag, und wir sollten unsere Kinder dazu erziehen, am
       persönlichen Befinden Abstriche zu machen, im Dienste der Gemeinschaft, die
       auch die ihre ist, und deren Rückhalt jeder Mensch braucht.
       
       18 Nov 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Katrin Seddig
       
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