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       # taz.de -- Die Wahrheit: Das Herz der Schweineprinzessin
       
       > Wenn Jungmänner hinterm Deich die Dorfschönste anhimmeln, nimmt das
       > Liebesmärchen meist nicht die erwartete Wendung.
       
       Keiner von uns wollte Feuerwehrmann oder Lokführer werden. Wir alle wollten
       im Leben nur eins: Das Herz der Schweineprinzessin erobern.
       
       Die Schweineprinzessin hieß eigentlich Sylvie, und ihre überirdische
       Schönheit verschlug jedem die Sprache. Man muss dazu wissen, dass das
       Aussehen der meisten Mädchen, die bei uns hinterm Deich aufwuchsen, uns
       allein von Oberflächlichkeiten gefangenen Grünschnäbeln stark an die
       glotzäugigen Kühe erinnerte, die auf den Marschwiesen standen. Die
       Schweineprinzessin hingegen schien einer Bravo-Fotoreportage über die
       wilden Partys der Stars in New York entsprungen zu sein, und die Aura, die
       sie umwehte, enthielt das Versprechen eines ausschweifenden Lebens, das
       keine Grenzen kannte.
       
       Doch nichts lag Sylvie ferner, als sich davonzuschleichen und mit dem
       Reiseziel Amerika an der Landstraße den Daumen rauszuhalten, denn sie war
       entschlossen, den Hof ihres Vaters zu übernehmen. Bauer Carlsen war der
       Schweinekönig der Gegend, sein Stall war riesig, und die Abluft, die der
       Halle entströmte, hüllte die ganze Gegend in eine deprimierende
       Fäkalienwolke. „Wer mit mir den Stall ausmistet“, sagte Sylvie, „der kriegt
       auch mein Herz.“
       
       Lange traute sich keiner von uns, die Herausforderung anzunehmen.
       Schließlich aber nahm der dicke Onno allen Mut zusammen. „Ich mach es!“,
       sagte er, zog sich die Gummistiefel an und stapfte zu Carlsens Hof.
       
       Wir vergingen vor Neid, denn die Schweineprinzessin empfing ihn mit einem
       umwerfenden Lächeln. Onno indes wirkte nicht sehr glücklich, denn mit jedem
       Schritt wuchs die Konzentration der Schweinedämpfe, und immer wieder musste
       er ein Würgen niederkämpfen. Als er die Stalltür hinter sich schloss, ging
       es nicht mehr: Wir hörten, wie er sich unter Qualen erbrach – was folgte,
       war ein tausendstimmiges Quieken und Schmatzen, dann war es totenstill.
       
       „O Gott“, sagte Fiete, „er hat versagt, und zur Strafe hat sie ihn an die
       Monster verfüttert!“
       
       Fluchtartig verließen wir die Schweinewelt hinterm Deich, und tatsächlich
       tauchte der dicke Onno nie wieder auf. Erst viele Jahre später, als wir
       längst in fremden Städten ein Leben führten, das wir uns nicht ausgesucht
       hatten, erfuhren wir, dass Onno damals mit einem fiebrigen
       Nervenzusammenbruch direkt aus dem Stall in die Psychiatrie im Hexenmoor
       verbracht worden war, wo er noch immer als selbsternannter Apostel des
       Schweinegotts die Heraufkunft des ringelschwänzigen Messias verkündete.
       
       Da aber war es zu spät, denn Sylvie war inzwischen nach einem
       Erweckungserlebnis beim Verspeisen eines Koteletts zum Veganismus
       konvertiert und wirkte als magersüchtige Pressesprecherin einer
       Tierschutzbewegung in New York, was, wie man hinterm Deich munkelte, dazu
       geführt hatte, dass Bauer Carlsen sich dem Suff ergeben hatte und
       schließlich stockbetrunken von einem Kommando revoltierender Schweine aus
       dem Haupthaus verjagt worden war. But that’s another story.
       
       18 Nov 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Joachim Schulz
       
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