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       # taz.de -- Serie „The Good Lord Bird“ auf Sky: Der schwarze Junge im Kleid
       
       > In der Miniserie „The Good Lord Bird“ kämpft Schauspieler Ethan Hawke als
       > Abolitionist John Brown für das Ende der Sklaverei – laut und
       > raumgreifend.
       
   IMG Bild: Henry „Onion“ Shackleford (Joshua Caleb Johnson) und John Brown (Ethan Hawke)
       
       John Brown (Ethan Hawke) spricht nicht, er grollt. Gefährlich grummelt er
       mit tiefer Stimme in seinen dichten Bart, murmelt, untersteuert, baut sich
       langsam auf. Bis es aus ihm herausplatzt und er donnert. Wie ein wütender
       Löwe brüllt Brown die Worte, schießt seine Parolen ins Publikum – und
       sabbert dabei, als ob ihm vor Leidenschaft das Wasser im Mund
       zusammengelaufen ist.
       
       Angeblich ist die Körpersprache bei einem Vortrag wichtiger als der Inhalt:
       Nach wenigen Minuten, heißt es in Rhetorik-Seminaren, hat einen der/die
       Redner*in entweder gekriegt, und man glaubt ihm/ihr. Oder man schweift
       aufgrund der Vortragsart ab, hört nicht mehr zu, glaubt nicht – egal, was
       gesagt wird.
       
       Der glühende Abolitionist John Brown scheint – jedenfalls in der
       Interpretation von Ethan Hawke, der die Showtime-Miniserie „The Good Lord
       Bird“ auch schrieb und produzierte – ein begnadeter Rhetoriker gewesen zu
       sein: Hawke spielt ihn als brennenden Menschenrechtsaktivisten, besessenen
       Christen, mitreißenden Agitator, furiosen Eiferer – und an der Grenze zum
       Wahnsinn.
       
       Für den wahren John Brown, dessen Leben die Grundlage für den 2013
       erschienenen Roman „The Good Lord Bird“ von [1][James McBride] darstellt,
       auf dem die Serie beruht, waren die Übergänge fließend: Als radikaler
       Terrorist und radikaler Freiheitskämpfer scheute er vor brutaler Gewalt
       gegen die US-Sklavenhalter*innen des 19. Jahrhunderts nicht zurück.
       
       Brown, der gemeinsam mit einer kleinen Gruppe Gleichgesinnter im Zuge der
       Grenzkriege im „Bleeding Kansas“ zwischen 1850 und 1859 Morde an
       Sklavenhaltern beging und am Ende wegen der Ermordung von vier Weißen und
       einem Schwarzen, Verrats und Anstiftung zur Rebellion in einem medial
       vielbeachteten Prozess verurteilt und gehängt wurde, stellte „die Sache“
       stets an die erste Stelle.
       
       „Mein Name ist Osawatomie John Brown“, lassen Hawke und seine
       Mitautor*innen Mark Richard, Erika L. Johnson und Jeff Augustin ihn
       mehrfach seine Sermone beginnen, „und ich bin hier, um die Sklaverei zu
       bekämpfen!!“ Der erste Applaus ist ihm – in der richtigen Umgebung – damit
       sicher.
       
       Es geht in der siebenteiligen Serie, die seit dem 6. November über Sky auch
       in Deutschland zu sehen ist, jedoch zum Glück nicht nur um die Art des
       Sprechens. Sondern vor allem um die Sprecherhaltung: James McBride erzählte
       die Geschichte des ambivalenten Bürgerrechtshelden, dessen Kampf durch den
       Text des Liedes „John Brown’s Body“ für immer in die US-Geschichte
       eingegangen ist, aus den Augen eines schwarzen Jungen.
       
       Henry Shackleford (Joshua Caleb Johnson) steht kurz vor der Pubertät, als
       sein Vater in der ersten Folge und beim ersten Zusammentreffen mit John
       Brown von Rassisten erschossen wird.
       
       Brown nimmt sich seiner an – und durch einem hübschen, literarischen
       Kunstgriff, der das Thema „Sprecher*innenhaltung“ noch tiefer in der
       Geschichte verwurzelt, wird Henry von ihm für ein Mädchen gehalten. Weil er
       sich nicht traut, den energetischen „Captain“ Brown über dessen Irrtum
       aufzuklären, bleibt Henry fortan „in Drag“.
       
       Brown nennt seine kleine Schutzbefohlene liebevoll „Onion“, „Zwiebel“,
       sorgt für ihn, und fragt ihn – als Vater von mehreren Töchtern durchaus mit
       Mädchenthemen vertraut – höflich, ob er beziehungsweise sie denn „schon
       blute“.
       
       Er beschützt ihn, nicht ohne sich der Vorteile, die „Onion“ ihm bringt,
       bewusst zu sein: Ein Mädchen wird nicht als Gefahr wahrgenommen, wenn es
       nach Vorträgen bei der Kollekte durch die Reihen geht, ein Mädchen – erst
       recht eines mit dunkler Hautfarbe – ist es gewohnt, auf Widerworte zu
       verzichten. Und auch Henry/Onion selbst weiß durchaus zu schätzen, dass ihm
       körperliche Arbeiten abgenommen, ihm gegenüber zuweilen gar eine gewisse
       hemdsärmelige Ritterlichkeit an den Tag gelegt wird.
       
       ## Stoische Komik und Verwunderung
       
       Der Unterschied zwischen den beiden Filmfiguren, dem polternden Brown und
       dem zurückhaltenden Onion, spielen beide Schauspieler mit Finesse: Hawke
       reizt seinen anstrengenden Charakter fast schon etwas eitel aus, gestaltet
       ihn laut, prominent, raumgreifend – während der junge Johnson ruhig bleibt,
       sein Gegenüber mit einer großartigen, stoischen Komik, mit viel
       Authentizität und Verwunderung spiegelt.
       
       Onions Entwicklung ist dabei viel interessanter als Browns Festgefahrenheit
       in seiner Mission: Hin- und hergerissen ist der Junge im Kleid von der
       neuen „Familie“, die aus Brown und dessen mehr oder minder ergebenen Söhnen
       sowie einigen Außenseitern der Gesellschaft besteht. Denn Onion, in seiner
       jugendlichen Naivität, begreift qua Herkunft und Erfahrungshintergrund mehr
       als sein rasender Gönner: „Zu den „wanted men“ zu gehören macht stolz“,
       sinniert Onion während eines Ritts durch die Täler, „jedenfalls bis man
       umgebracht wird.“
       
       Und irgendwann formuliert er jene grundlegende Merkwürdigkeit und
       Ungerechtigkeit in der Beziehung, bei der Brown immer wieder betont, für
       die Rechte und die Unabhängigkeit der Schwarzen zu kämpfen, indem Onion
       knapp feststellt: „Ich BIN schwarz – aber ich mache, was ein alter weißer
       Mann mir sagt.“
       
       ## Entscheidung zur schwarzen Erzählperspektive
       
       „The Good Lord Bird“ kam mit seiner verzögerten Ausstrahlung mitten im
       [2][Präsidentenwahlkampf] – eigentlich sollte die Serie schon vor Monaten
       gezeigt werden – gerade recht: Natürlich muss man die Entscheidung zur
       schwarzen Erzählperspektive im Zusammenhang mit der
       Black-Lives-Matter-Bewegung sehen. Denn wie despektierlich es ist, der
       bitteren, bis heute wirkmächtigen Geschichte der Sklaverei ausschließlich
       das Porträt eines weißen Abolitionisten anzufügen, steht außer Frage.
       
       Dabei verzichten die Autor*innen auf Heldenmalerei und eindimensionale
       Gut-Böse-Zeichnungen – auch der selbsternannte „King of Negros“ Frederick
       Douglass (Daveed Diggs), ein charismatischer Anführer und Denker, dessen
       Unterstützung Brown sucht, stellt sich als etwas faule, eingebildete
       Schnapsdrossel heraus, die in einer albernen Sequenz von zwei Frauen
       gleichzeitig gefordert wird.
       
       Überhaupt haben die Macher*innen keine Angst vor Humor – mit festem
       Blick auf die Retro-Verliebtheit von [3][Tarantinos süffisanter
       Spaghettiwestern-Bildsprache] oder die [4][skurrilen Westernvarianten der
       Coen-Brüder] inszenieren sie die mit einem beeindruckenden Blues- und
       Gospelscore unterlegten Szenen mit Slapstick, Gags – und zuweilen zu viel
       ästhetisierter Gewalt.
       
       ## Risiko der sexuellen Gewalt
       
       Was schade ist und der Empathie nicht guttut: Wenn man sich keine
       wirklichen Sorgen um Onion machen muss, weil die blutige Schießerei vor
       seinen Augen performativ und damit nicht mehr gefährlich, sondern nur noch
       schockierend wirkt, lässt man den Charakter im Stich.
       
       Auch dass Onions Frauenrolle bis auf das Kleidertragen kaum Konsequenzen
       hat, als ob es für ein schwarzes Mädchen in „Bleeding Kansas“ nicht noch
       zusätzliche Bedrohungen gegeben hätte, weil zum tödlichen Rassismus das
       Risiko der sexuellen Gewalt hinzukommt, ist verschenkt: Es werden dann
       doch, trotz interessanter Charaktere wie der Bürgerrechtlerin Harriet
       Tubman (Zainab Jah) oder Onions erster Liebe, der unzuverlässigen
       Prostituierten Pie (Natasha Marc), nicht sämtliche denkbaren Sprecher*innen
       verhandelt.
       
       Als Quintessenz der turbulenten Serie kann dennoch gelten, was John Brown
       feststellt: „Amerika wird keinen Frieden finden, bis wir uns mit der
       Sklaverei auseinandergesetzt haben.“ Seine Worte sind auch über 170 Jahre
       nach den Kämpfen und Revolten und über 160 Jahre nach den
       Verfassungsänderungen und der offiziellen Abschaffung der Sklaverei
       aktueller denn je. Man muss das Wort „Sklaverei“ nur durch „Rassismus“
       ersetzen.
       
       18 Nov 2020
       
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