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       # taz.de -- 25 Jahre Abkommen von Dayton: Ein bisschen Tradition
       
       > Das Abkommen von Dayton beendete zwar den Krieg. Gute Bedingungen für
       > eine Zukunft Bosniens und Herzegowinas schuf es aber nicht.
       
   IMG Bild: Unter Applaus der vermittelnden Mächte: Milošević (v. l. n. r. sitzend), Tudjman und Izetbegovic unterzeichnen das Abkommen von Dayton am 14.12.1995 in Paris
       
       Wenn ein Vulkanausbruch ein Land zerstört, ist erst einmal alles Leben
       ausgelöscht. Doch nach einiger Zeit nutzen Pflanzen die Ritzen im Gestein,
       brechen durch die Asche. Neues Leben entsteht. Vielleicht befinden wir uns
       nach all dem Feuer, das Nationalisten aus Serbien und später auch Kroatien
       über Bosnien und Herzegowina gebracht haben, jetzt nach 25 Jahren an einer
       Zeitenwende. Bei den Wahlen am vergangenen Wochenende haben sich immerhin
       einige kräftige neue Pflanzen gezeigt.
       
       Das alte Leben vor dem Krieg, die gewachsene Tradition des Miteinanders von
       Menschen aller Volksgruppen, wird zwar nicht so schnell zurückkehren
       können. In jeder Großfamilie feierten früher Muslime, Katholiken, Orthodoxe
       und Juden die jeweiligen Feste gemeinsam. Wer diese Gesellschaft vor dem
       Krieg erleben durfte, war berührt. Das war nicht Multikulti, das war eine
       historisch gewachsene tolerante Gesellschaft.
       
       Die Gesellschaft Bosniens war die Antithese zum serbischen und kroatischen
       Nationalismus und musste deshalb zerstört werden. Darin waren sich die
       beiden Präsidenten Serbiens und Kroatiens schon vor dem Krieg einig. Bei
       einem Treffen in Karadjordjevo vereinbarten Tudjman und Milošević im März
       1991 die territoriale Aufteilung Bosnien und Herzegowinas.
       
       Die [1][ethnischen Säuberungen] im Krieg 1992–95 waren nicht die Folge des
       Krieges, sondern deren Ziel. Für die muslimische Bevölkerungsgruppe und
       alle Opponenten, vor allem Antifaschisten, Sozialdemokraten, alle, die
       weiterhin für Toleranz und Menschenrechte eintraten, war da kein Platz.
       [2][Ein Genozid war die Folge]. Wenn Zehntausende systematisch ermordet,
       geschändet und weitere Zehntausende durch Bomben, Scharfschützen und
       Granaten getötet, wenn 2 von 4,5 Millionen Menschen aus ihrer Heimat
       vertrieben werden, dann bleibt keine Gesellschaft unbeschädigt. Der
       nationalistisch motivierte Wahnsinn mit dem Ziel, ethnisch reine
       Gesellschaften zu schaffen, ist überall auf der Welt ein Verbrechen. Aber
       in Bosnien war er „erfolgreich“. Die Bevölkerungen wurden in den Krieg
       gerissen, Überlebensangst, leidvolle Erfahrungen auf allen Seiten führten
       zum Bruch. Die alte Gesellschaft lag 1995 in Trümmern.
       
       Nur wenige Politiker in Europa, den USA und dem Rest der Welt haben das
       verstanden. Der Angriffskrieg Serbiens und später auch Kroatiens auf
       Bosnien und Herzegowina wurde international schon 1993 als „Bürgerkrieg“
       definiert und damit die Drahtzieher vor allem in Belgrad entlastet. Statt
       klar Stellung gegen den Extremismus zu beziehen, hoffte man auf ein Ende
       des Krieges, nachdem das Land „ausgeblutet“ sei – so der britische
       Außenminister Douglas Hurd 1993. Dieser Zynismus ist bis heute nicht
       vergessen. Die Internationalen verhandelten nur mit den Nationalisten. Das
       Ergebnis ist das Abkommen von Dayton, das am 21. November 1995 immerhin den
       Krieg beendet hat.
       
       Ja, es beendete den Krieg, schuf auch eine formal demokratische Struktur
       mit Parlamenten auf allen staatlichen Ebenen, in der die drei
       „Konstituierenden Nationen“ einen Kompromiss für den Gesamtstaat finden
       sollten. Aber es rüttelte nicht am Grundsätzlichen. Mit der Militärpräsenz
       im Rücken konnte man zwar die Kriegsparteien entwaffnen, die
       kriegsführenden nationalistischen Eliten durften jedoch an der Macht
       bleiben. Die viel zu früh angesetzten Wahlen legitimierten sie sogar. Die
       Frage der Kriegsverbrechen und deren Sühne wurde nicht einmal erwähnt.
       Durch das Raster fielen auch die Rechte der Minderheiten wie die der Roma
       und Juden oder aller, die sich nicht national definieren wollten. Die
       vielfältigen Vetorechte der Parteien aus den „Konstitutiven Nationen“
       schufen viele Blockademöglichkeiten. Die nationalistischen Parteien
       profitieren vom Status quo.
       
       Sie beherrschen in ihren Herrschaftsgebieten den Arbeitsmarkt. Sie setzten
       in den noch gemischten Gebieten bis ins Kleinste das ethno-nationale
       Prinzip durch. Die Schulen mit zwei Ausgängen sind nur ein Beispiel. Es
       gibt jetzt, befeuert durch die jeweiligen Religionen, drei Ideologien, drei
       Erinnerungskulturen, drei Medienwelten. Wer nicht spurt, fliegt. Wer sich
       ihnen nicht anschließt, bekommt keinen Job. Wer da nicht mitmacht, wird als
       Volksverräter verfolgt.
       
       Im Rahmen dieser Verfassung ist es deshalb nicht möglich, den
       wirtschaftlichen und rechtlichen Anforderungen für die Integration des
       Landes in die EU nachzukommen. Das Urteil des Europäischen Gerichtshofes im
       Fall Sejdić/Finci 2009, das volle Bürgerrechte für die Minderheiten
       verlangt, wird nicht umgesetzt. So kann die Integration in die EU nicht
       gelingen. Brüssel begnügt sich mit dem Lippenbekenntnis der führenden
       Politiker des Landes, den europäischen Weg einzuschlagen, die aber in
       Wirklichkeit das Gegenteil tun.
       
       Doch am letzten Sonntag haben bei den Kommunalwahlen die Wähler in Sarajevo
       und den anderen großen Städten Zeichen gesetzt. Viele wollen die ethnischen
       Spaltungen nicht mehr, sie wollen einen normalen Staat. Sie wählten in den
       großen Städten die korrupten Führungen ab oder bestätigten die Reformer.
       
       Im Wahlkreis Sarajevo- Zentrum entschieden sich muslimische Wähler für
       einen Serben, der die Stadt während des Krieges gegen die serbischen
       Angreifer verteidigt hat. Sarajevos Bürgermeister soll ein Serbe werden.
       Das wird auch Eindruck bei den anderen Volksgruppen machen. In Banja Luka,
       der Hauptstadt des serbischen Teilstaates, hat sich ein Oppositioneller
       gegen die Partei des Trump- und Putin-Anhängers Milorad Dodik durchgesetzt.
       
       Ein bisschen Tradition ist zurück. Von Europa können die Menschen in
       Sarajevo allerdings wenig Unterstützung erwarten, aber sie hoffen auf den
       Balkan-Kenner Joe Biden. Sie haben nicht vergessen, dass der 1993 für eine
       militärische Aktion der Nato gegen die Belagerer Sarajevos eingetreten ist.
       
       21 Nov 2020
       
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