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       # taz.de -- Überwachung durch Staatstrojaner: Nicht mehr nur Gott sieht alles
       
       > Mit dem neuen Gesetz zum Einsatz von Staatstrojanern schafft sich der
       > Staat Möglichkeiten umfassender Überwachung. Entkommen ist kaum noch
       > möglich.
       
   IMG Bild: Dein Handy sieht alles
       
       Noch im Halbschlaf griff ich heute früh nach dem Handy und las wie jeden
       Morgen die Nachrichten. Meine Frau Anni folgte mir schlurfend zur
       Espressomaschine, die Augen ebenfalls auf ihr Handydisplay gerichtet, als
       ich abrupt stehenblieb und flüsterte: „Wir müssen über die Digitalisierung
       und Überwachung schreiben!“ Sie sah mich entsetzt an: „Warum flüsterst du?“
       
       „Weil wir ab jetzt in einem Überwachungsstaat leben.“ 
       
       Was klingt wie der Anfang eines dystopischen Thrillers, ist leider
       Realität. Staatstrojaner sind nichts Neues, das Bundeskriminalamt darf sie
       seit 2009 unter anderem zur Prävention von Terroranschlägen nutzen.
       [1][Dafür brauchte es bisher einen richterlichen Beschluss – jetzt nicht
       mehr.] Was [2][in Hamburg] bereits seit 2019 erlaubt ist, [3][gilt bald für
       die Geheimdienste aller Bundesländer], für das Bundesamt für
       Verfassungsschutz (BfV), den Auslandsgeheimdienst BND und den
       Militärgeheimdienst MAD.
       
       [4][Horst Seehofer] beschreibt das Gesetz als „überfälligen Schritt im
       Kampf gegen Terroristen und militante Extremisten.“ Doch wer kontrolliert
       das BfV, wenn ich unwissentlich mit einer verdächtigen Person Kontakt habe
       und einfach mal „zur Sicherheit“ angezapft werde? Das Programm darf zwar
       nur zur „Überwachung der laufenden Kommunikation“ angewendet werden, obwohl
       es technisch dazu in der Lage ist, alle Daten auszulesen. Ob sich die
       Nachrichtendienste daran halten, [5][soll der neue „Unabhängige
       Kontrollrat“ prüfen. Der ist so unabhängig, dass er sich ans
       Bundeskanzleramt wenden muss, bevor er den Bundestag kontaktiert.]
       
       Das dabei absolut beschissene Timing der Bundesregierung sät in mir
       Zweifel, ob nicht ein Ausnahmezustand genutzt wird, um unbemerkt
       tiefgreifende gesellschaftliche Änderungen vorzunehmen, und erinnert mich
       an das, [6][was Rahm Emanuel, neoliberaler Stabschef von US-Präsident
       Barack Obama, einmal gesagt hat]: „Verschwende niemals eine Krise – sie ist
       die Gelegenheit, Dinge zu tun, von denen man dachte, man könne sie nie
       tun.“
       
       „Gott sieht alles“, habe ich als Kind oft gehört und bin sicher, dass auch
       andere Kinder sich gefürchtet haben, wenn sie etwas vermeintlich Falsches
       bloß gedacht haben. So fühle ich mich jetzt. Allein das Wissen um die
       Möglichkeiten, die der Staat sich jetzt geschaffen hat, macht alles
       Gedachte, Gesagte und Geschriebene gefühlt öffentlich. Nichts bleibt mehr
       im Verborgenen.
       
       So sind wir gefangen – im eigenen Kopf. Gedanken isoliert. Nie
       ausgesprochen. „Die Gedanken sind frei!“ Das war einmal. Angst wird unser
       ständiger Begleiter. Schreibende bringen ihre Quellen in Gefahr, wenn sie
       sie digital kontaktieren, und sensibles Material wird besser
       handschriftlich … o Gott. Nicht die Regierung muss uns überwachen, sondern
       wir die Regierung. Das sind wir der Geschichte schuldig.
       
       Auf der Toilette höre ich jetzt die [7][Protestlieder von Bob Dylan]. Ganz
       laut. Mein stiller Protest auf dem stillen Örtchen. Weil mich der Gedanke,
       dass der Staat mir beim Kacken zuhört, nicht loslässt und ich keine
       Verstopfung kriegen möchte. Ich lege bei jeder Gelegenheit das Telefon weg.
       Ich fühle mich kriminalisiert. Ich lasse es, wenn möglich, zu Hause, damit
       niemand meine Bewegungen verfolgen kann.
       
       Die aktuelle Maskenpflicht würde mir helfen, mich vor den Kameras unerkannt
       draußen zu bewegen, gäbe es nicht längst Programme, die mich am Gang
       erkennen. Freunde reden mit mir verklausuliert, und ich erwische mich
       dabei, dass ich lieber meinen Mund halte, bevor ich etwas sage, was mir
       vielleicht in ein paar Jahren zum Vorwurf gemacht wird. Beim Sex überlege
       ich, ob ein Handy unterm Bett liegt und ein schmieriger BND-Mitarbeiter
       seinen Arbeitsplatz gerade ganz angenehm findet.
       
       Das alles erzeugt das Gefühl, zwischen der analogen und digitalen Welt
       eingeklemmt zu sein. Gefangen im Spannungsfeld zwischen dem zutiefst
       menschlichen Begehren, Teil des sozialen Lebens zu sein und mich der
       totalen Überwachung zu entziehen. Ein Großteil der sozialen Kommunikation
       findet nun mal im Netz statt.
       
       Klar kann ich mich überall abmelden. Aber das käme einem Sichbeugen vor
       einem unsichtbaren Gegner gleich und einer Kapitulation vor meinem
       Selbstverständnis als gestaltendes Mitglied der Gesellschaft. Dieser
       Zustand erzeugt Ohnmacht und ist vielleicht ein Grund für den ausbleibenden
       Protest. Unsere innere Stimme sagt, dass wir uns wehren müssen, und eine
       andere, fremde Stimme, lacht uns aus: „Nur zu, du Opfer. Wir sehen und
       hören dich sowieso.“
       
       Um diese Zerrissenheit nicht zu fühlen, müssen wir verdrängen. Nur dass
       auch das Unterbewusstsein längst kein sicherer Ort mehr ist. Unser
       Verhalten im Netz ist so entlarvend, dass ein [8][Algorithmus schon vor mir
       weiß], ob ich Hunger oder Durst habe oder schwanger bin. Ich spüre, wie die
       analoge immer mehr mit der digitalen Überwachung verschmilzt, wenn ich über
       Spaghetti spreche und die entsprechende Werbung fast in Echtzeit über den
       Monitor huscht.
       
       Ich kann nicht mehr entkommen. Die Überwachung ist längst lückenlos. Ich
       bin umgeben von Tausenden Mikrofonen meiner Mitmenschen, die meine Stimme
       aufzeichnen, damit ein Programm sie herausfiltern kann. Ich flüstere also
       nur noch. Nein, ich bleibe still. So wie wir alle gerade still bleiben, und
       allein das Wissen um die Möglichkeiten der Überwachung erstickt jeden
       kritischen Gedanken bereits im Kopf. Und aus diesen nicht vorhandenen
       Gedanken können keine Worte entstehen und [9][aus nicht gesprochenen Worten
       resultiert schließlich Tatenlosigkeit].
       
       Ich will hier weg. Doch selbst das Fluchtauto will dieser Tage gut gewählt
       sein. Sind doch alle modernen Fahrzeuge mit einer Blackbox ausgerüstet –
       die übrigens ab 2024 in der EU Pflicht ist. Auch sie dient, natürlich,
       unserer Sicherheit, soll sie doch im Falle eines Unfalls zu dessen
       Aufklärung beitragen.
       
       Wo die [10][gesammelten Daten zwischenzeitlich landen] und wer sie
       einsieht? Keine Ahnung. Auch meinen Beruf als Schriftsteller muss ich wohl
       bald an den Nagel hängen, wo doch elektronische Lesegeräte mein
       Leseverhalten analysieren, um mit diesen Daten eine KI zu füttern, die
       künftig auf mich zugeschnittene Bücher schreibt.
       
       Jetzt bekommt also jeder seine eigene Welt mit seinem eigenen Gott. Sie ist
       sie perfekt an unsere Bedürfnisse angepasst. Und kein Kain kann Abel mehr
       erschlagen und auch Plagen stellen keine Gefahr mehr dar. Wenn wir keinen
       physischen Kontakt mehr haben, dann sind wir ganz sicher. Dann kann uns
       nichts mehr geschehen. Wo kein Leben mehr ist, kann schließlich auch keines
       mehr in Gefahr geraten.
       
       Konzerne arbeiten schon lange an der Erschaffung dieser Blasen, in die sie
       uns einzeln verpacken wollen und die das als Paradies verkleidete Zuhause
       zu einer Zelle machen. Jetzt hat der Staat entschieden, sich am Bau dieser
       Millionen von Zellen zu beteiligen. Und so entsteht ein Gefängnis, bei der
       die einzige sinnliche Erfahrung unsere Fingerkuppen mit der Tastatur machen
       dürfen. Die wird aber auch bald Vergangenheit sein.
       
       Anni reicht mir einen Apfel. Seit sie schwanger ist, hat sie unbändige Lust
       auf die verbotene Frucht: „Lass uns die Kerne in die Erde pflanzen, damit
       ein Baum der Erkenntnis daraus wächst, dessen Früchte unsere Tochter später
       einmal ernten kann.“ Ich bin völlig fertig. Und dennoch ist da Hoffnung.
       [11][Der Staat will mich zwingen, ein braver Bürger zu sein], damit ich
       existieren kann. Aber ich möchte kein braver Bürger sein, kein betäubter
       Gefolgsmann. Das bin ich meinen Töchtern schuldig. Das sind wir der
       nächsten Generation schuldig.
       
       Ich klappe jetzt den Rechner meines Laptops zu. Wenn die im Rahmen der
       Recherche für diesen Artikel besuchten Webseiten mit einer ungewöhnlich
       hohen Dichte an „kritischen“ Suchbegriffen dazu führen, dass irgendein
       Geheimdienst mich jetzt auf dem Schirm hat – da scheiß ich drauf. Anni
       sagt: „Bitte doch die Leser und Leserinnen, den Artikel laut im Netz
       vorzulesen. Das wäre doch ein Anfang, oder?“ Finde ich auch. Ende.
       
       20 Nov 2020
       
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