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       # taz.de -- USA nach den Wahlen: Zum Weinen
       
       > Wann hat sich die Welt wohl zuletzt so angefühlt wie an diesem Tag? Bei
       > der Mondlandung? Beim Mauerfall? Eindrücke aus Philadelphia.
       
   IMG Bild: Feiernde nach der Verkündung des Sieges von Joe Biden am 7.November in Philadelphia
       
       Am Samstag, wenige Minuten nachdem CNN verkündet hatte, [1][dass der
       gewählte Präsident der Vereinigten Staaten Joseph R. Biden] heißt, stand
       ich an einer Hauptverkehrsstraße mitten in Philadelphia und heulte.
       
       Neben mir hupten Autos, Verkäufer liefen aus den Geschäften, Leute brüllten
       Unverständliches aus den Fenstern, die ersten waren schon mit Transparenten
       und Fahnen unterwegs zur Party vor dem Kongresszentrum, in dem die Stimmen
       ausgezählt wurden. Ich starrte auf diese Szene und merkte erst gar nicht,
       dass mir Tränen über das Gesicht liefen.
       
       Nicht nur vor Erleichterung (aller sorgfältig gepflegten journalistischen
       Distanz zum Trotz war die, denke ich, in diesem Fall gestattet) oder vor
       Erschöpfung nach dem Nervenkitzel der vorangegangenen Tage. Ich musste
       weinen, weil ich so etwas noch nie erlebt hatte: Eine ganze Stadt, deren
       Gedanken und Gefühle plötzlich von einem einzigen Ereignis gelenkt wurden.
       Als stünde ich in einer überdimensionierten Mikrowelle, deren Strahlung
       mich langsam mit dem auflud, was die Menschen um mich herum schon gepackt
       hatte. Nicht nur in Philadelphia, sondern zu Hunderttausenden im ganzen
       Land, auf dem ganzen Planeten. Feuerwerk in Paris, US-Flaggen vor dem
       Brandenburger Tor, Schilder mit der Aufschrift „Herzlichen Glückwunsch,
       Kamala Harris – Stolz unseres Dorfes“ in dem indischen Örtchen, aus dem
       Harris’ Großvater einst ausgewandert war.
       
       Wann hat sich die Welt wohl zuletzt so angefühlt wie an diesem Tag? Bei der
       Mondlandung? Beim Mauerfall? Beides war, lange bevor ich eine Vorstellung
       davon hatte, was das ist, die Welt – oder was sie sein kann. Endgültig habe
       ich sie immer noch nicht. Aber ich bin jetzt ein ganzes Stück näher dran.
       Nicht nur dank Philly, das so stolz auf die paar Tausend Stimmen aus dem
       Pennsylvania Convention Center war, deren Auszählung an jenem Samstagmorgen
       das Team Biden/Harris über die entscheidende Schwelle schubste, dass ganze
       Straßenzüge tanzten.
       
       Aber leider auch dank Begegnungen wie der mit dem karobehemdeten
       Familienvater Mitte vierzig, bei dem ich im Frühjahr in Tennessee einen
       Gebrauchtwagen kaufte. Wir saßen in seinem fensterlosen Büro, er druckte
       umständlich den Kaufvertrag aus und fing an, von seinem neuen AR15 zu
       erzählen, das hinge gleich hinter der Flurgarderobe an der Wand. Ich
       fragte, wozu er eine Halbautomatikwaffe brauche, noch dazu in einer Stadt
       wie Nashville, wo an jeder Straßenecke eine Notrufsäule hässlich blau in
       die Nacht leuchtet. „Na, Sie wissen schon“, sagte er in einem Ton, der
       deutlich zu verstehen gab, dass das eine sehr dumme Frage war. „Wenn der
       Sozialismus kommt!“ Der Sozialismus ist nicht gekommen, sondern nur Joe
       Biden. Und trotzdem ist ein großer Teil dieses Landes, inklusive der
       einstigen Grand Old Party, zu einer Sekte geworden, die sich immer mehr in
       die Fantasie hineinsteigert, Opfer eines gigantischen Wahlbetrugs geworden
       zu sein.
       
       Ich glaube nicht, dass der Autoverkäufer deshalb jetzt Amok läuft. Aber ich
       habe Angst [2][vor dem Gedanken, was es heißt, dass 72 Millionen Menschen
       so gewählt haben wie er].
       
       Denn jetzt, eine Woche nach der Mauerfallmondlandung von Pennsylvania,
       wissen wir zwar, dass Joe Biden mindestens Wisconsin, Michigan,
       Pennsylvania und Arizona von Trump zurückerobert hat, dass er mehr Stimmen
       bekam als jeder andere Präsidentschaftskandidat in der Geschichte der
       Vereinigten Staaten und dass die Wahlbeteiligung so hoch war wie seit
       hundert Jahren nicht. Aber das, was Sie sich vermutlich fragen, frage ich
       mich genauso: Warum haben immer noch so viele Trump gewählt? Und wie soll
       das alles weitergehen?
       
       Bis ich darauf eine Antwort formulieren kann, bewahre ich mir Philadelphia
       und viele andere Momente epiphanischen Charakters, weit abseits von
       Biden-Trump-Biden-Trump-Biden. Die Facebook-Gruppe der Suburban Housewives
       Against Trump, in der an Brustkrebs Erkrankte Fotos davon posten, wie sie
       sich direkt von der letzten Chemo ins Wahllokal fahren ließen.
       Wahlhelfer:innen, die Ankommende mit erhobenen Händen und lautem Jubel
       begrüßen. „I voted“-Sticker, „I voted“-Masken und „I voted“-Gratiskaffee.
       
       Ich wurde nun schon ein paar Mal erwartungsfroh gefragt, wie das denn so
       bei uns sei; gemeinhin wird angenommen, dass in Germany alles rundum toll
       und gesittet läuft, auch und gerade politisch, und wir allen Grund hätten,
       uns über Trumpland lustig zu machen. Wie erklärt man da, dass es in
       Deutschland trotz höherer Wahlbeteiligung so was wie ein gemeinsames
       Wahlerlebnis nicht gibt, stattdessen aber regelmäßig ein paar Tausend
       Trottel auf die Straße rennen und meinen, durch gegenseitiges Anhusten die
       Demokratie zu beleben? Womöglich gibt’s da sogar einen Zusammenhang. Es ist
       zum Heulen.
       
       13 Nov 2020
       
       ## LINKS
       
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