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       # taz.de -- Augenzeugenbericht eines Ex-Guerilleros: Der Terrorist Carlos und die Linken
       
       > „Carlos – der Schakal“. Thomas Kram, einst Mitglied bei den
       > Revolutionären Zellen, spricht mit der taz exklusiv über diesen Thriller.
       
   IMG Bild: Nora von Waldstätten als Magdalena Kopp und Édgar Ramírez als Carlos in dem Spielfim von 2010
       
       Anläßlich des monumentalen Filmepos „Carlos – Der Schakal“ von Olivier
       Assayas sprach die taz 2010 mit einem früheren Untergrundkämpfer. Der
       spektakuläre Actionfilm beleuchtet die Kooperation deutscher und
       palästinensischer Untergrundgruppen. Ein bis heute eher gut gehütetes
       Geheimnis der militanten Szenen. Thomas Kram, früheres Mitglied der
       deutschen Revolutionären Zellen (RZ), berichtete hier erstmals öffentlich
       über die Zusammenarbeit mit der Carlos-Gruppe in den 1970er Jahren. Der
       Venezolaner Carlos fungierte für die palästinensische Terrorszene als
       Mittelsmann nach Westeuropa. Seine Gruppierung verübte im Auftrag der
       palästinensischen PFLP sowie später eigenständig zahlreiche
       Terroranschläge, vor allen in Frankreich. Das Gespräch mit Kram ist ein
       wichtiges Dokument der Zeitgeschichte, weswegen wir es hier zehn Jahre nach
       seinem Erscheinen in der Printausgabe der taz auch auf taz.de neu
       veröffentlichen. 
       
       taz: 1975 wurde Ilich Ramírez Sánchez, genannt „Carlos“, weltberühmt. Ein
       Kommando unter seiner Führung stürmte die Opec-Konferenz in Wien. An
       vorderster Front dabei auch ein Mitglied der deutschen Revolutionären
       Zellen (RZ). Herr Kram, Sie gehörten den RZ an, hatten sie damals
       persönlich Kontakt zu Carlos? 
       
       Thomas Kram: 1975 war ich bei den RZ gerade frisch eingestiegen und über
       die Opec-Aktion vorher nicht informiert.
       
       Wie alt waren Sie damals? 
       
       27 Jahre alt. Ich kannte Carlos nur aus den Medien und hatte nichts mit ihm
       zu tun. Später habe ich ihn kennengelernt. Bei meinen Besuchen bei Johannes
       Weinrich, nachdem der illegal war, das war 1978/79.
       
       Haben Sie Carlos öfter gesehen? 
       
       Drei- oder viermal. Er kam manchmal dazu, wenn ich mich mit Weinrich in
       Ostberlin oder Budapest traf.
       
       Was war der Anlass der Treffen? 
       
       Johannes Weinrich und Magdalena Kopp kamen aus RZ-Zusammenhängen und
       verstanden sich Ende der 70er Jahre nach wie vor als Mitglieder der RZ. Da
       ich mit ihnen nicht nur politisch, sondern auch freundschaftlich verbunden
       war, wollte ich den Kontakt zu ihnen aufrechterhalten, auch wenn es bereits
       unterschiedliche politische Prioritäten gab.
       
       Anfang November 2010 startet der Film „Carlos – Der Schakal“ in
       Deutschland. Gespielt wird Carlos von dem venezolanischen Schauspieler
       Édgar Ramírez. Sie haben den Film bereits gesehen. Als jemand, der Carlos
       persönlich traf: Spielt Ramírez seinen Carlos überzeugend? 
       
       Das ist schwierig zu beurteilen, wenn man jemand nur sporadisch erlebt hat.
       Für mich war er erst mal ein Phantom, das die Medien in die Welt gesetzt
       hatten. Trotzdem gibt es natürlich Dinge, die ich wiedererkenne. Carlos
       verhielt sich solidarisch und verantwortlich denen gegenüber, die er für
       Revolutionäre hielt. Er war politisch gut geschult und sehr eloquent, war
       aber auch sehr bestimmend, sehr dominant.
       
       Also so, wie der Film dies darstellt? 
       
       Mehr oder weniger.
       
       Im Auftrag der Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) führte Carlos in
       Westeuropa in den 70er Jahren Terroranschläge durch. Die aus der RZ
       stammende Deutsche Magdalena Kopp wurde seine Freundin, Carlos rechte Hand
       blieb bis zur Festnahme Mitte der 90er Jahre Johannes Weinrich. Wie konnte
       es zu dieser intensiven internationalen terroristischen Zusammenarbeit in
       den 70er Jahren kommen? 
       
       Könnten Sie den Begriff „terroristisch“ in diesem Zusammenhang streichen?
       
       Wieso, wie würden Sie das sonst bezeichnen? 
       
       Es gab in den RZ eine kleine Gruppe, die sich international bewegte. Das
       hatte pragmatische Gründe, entsprach aber auch dem Selbstverständnis vieler
       Linker Anfang der 70er. Wir bezogen uns auf die antikolonialen
       Befreiungsbewegungen, die sich den bewaffneten Kampf auf ihre Fahnen
       geschrieben hatten. Den Palästinensern kam dabei eine besondere Rolle zu.
       Für die RZ war die Zusammenarbeit mit der PFLP Ausdruck internationaler
       Solidarität, die auch die Möglichkeit eröffnete, politische Gefangene aus
       den Gefängnissen zu befreien. Dass man dabei die Kampfformen
       palästinensischer Organisationen übernahm, war allerdings kaum Thema. Aus
       der Sicht der Palästinenser schienen Flugzeugentführungen wie die nach
       Entebbe 1976 gerechtfertigt. Als Vertriebene konnten sie nur zu
       exterritorialen Kampfformen greifen, um ihren Forderungen Geltung zu
       verschaffen.
       
       Assayas’ Film beruht vor allem auf direkten Zeugenaussagen sowie Gerichts-
       und Polizeiakten. Er zeigt einige der Deutschen wie Gabriele
       Kröcher-Tiedemann bei dem Wiener Opec-Anschlag 1975 als extrem fanatisiert.
       Was sagen Sie dazu? 
       
       Ich habe Gabriele Kröcher-Tiedemann persönlich nicht gekannt. Sie reagiert
       in dem Film erst aggressiv und bricht schließlich in Tränen aus, als klar
       wird, dass die Opec-Aktion ihr Ziel verfehlt. Das finde ich kein Zeichen
       von Fanatismus. Eher Ausdruck einer enormen Anspannung, die sich plötzlich
       entlädt. Sie war selbst erst ein paar Monate vorher aus dem Knast befreit
       worden. Dass die Mehrzahl der Zuschauer dies vermutlich anders wahrnehmen
       wird, hängt doch auch damit zusammen, dass der Film nicht versucht,
       begreiflich zu machen, was in den 70er Jahren los war.
       
       Teilweise wohl schon:Die Waffen für den Opec-Überfall werden laut Assayas’
       Filmproduktion von irakischen Diplomaten beschafft. Der Venezolaner Carlos
       und die deutschen RZ gemeinsam auf dem Ticket von arabischen Despoten wie
       Saddam Hussein und der palästinensischen PFLP: Was sagen sie von heute aus
       dazu? 
       
       Von den konkreten Hintergründen weiß ich nichts.
       
       Aber halten Sie es für plausibel, dass die Waffen für den Opec-Überfall
       über die Iraker kamen? 
       
       Ziel der Opec-Aktion war, das kann man dem Film entnehmen, die reaktionären
       arabischen Staaten unter Druck zu setzen. Sie sollten sich wieder stärker
       der palästinensischen Sache annehmen, nachdem sie erst aus Jordanien
       vertrieben und dann von den Falangisten im Libanon bekämpft wurden.
       Deswegen kann ich mir vorstellen, dass es von Seiten der arabischen
       Staaten, die man damals für progressiv hielt, ein Interesse an der
       Geiselnahme der Ölminister in Wien gab. Aber darüber haben wir nicht
       gesprochen.
       
       Da wurden Aktionen im Weltmaßstab durchgeführt, die auch noch schiefgingen,
       und Sie haben intern darüber nicht diskutiert? 
       
       1975 gehörte ich einer regionalen Gruppe der RZ an, die sich auf einem
       völlig anderen Terrain bewegte. Deshalb wurde, zumindest in meiner
       Gegenwart, nicht über Opec diskutiert. Ist das so verwunderlich?
       
       Heißt das, solche Aktionen wurden für gut befunden? 
       
       Nein, das heißt es nicht. Für Außenstehende war schwer nachvollziehbar, was
       das Ganze sollte. Die Geiselnahme in Wien war spektakulär, aber was sollte
       damit erreicht werden? Später hieß es, dass die Opec-Aktion nach der
       Landung des Kommandos mit den Geiseln in Algier abgebrochen werden musste
       und deshalb ihr Ziel verfehlt hatte. Das legt ja auch der Film nahe.
       
       Bedeutet dies, man fand sie nicht gut, weil sie nicht erfolgreich war?
       Wurde die Opec-Aktion als solche damals noch nicht infrage gestellt? 
       
       Ich kann nur für mich sprechen: Der Überfall auf die Opec bewegte sich
       jenseits meines Horizonts. Zwar war Hans-Joachim Klein in Wien dabei, ich
       wusste aber noch nicht, dass er Mitglied der RZ war. Diese Zusammenhänge
       waren mir im Dezember 1975 nicht bewusst. Erst hinterher habe ich gemerkt,
       wie nah ich da dran war. Die Mehrheit der RZ begriff sich als
       sozialrevolutionäre Organisation und agierte nicht in der Logik des
       Befreiungsnationalismus. Die Unterscheidung zwischen guten und schlechten
       Staaten war nicht unser Ding. Das hat in letzter Konsequenz ja auch zum
       Bruch mit der Gruppe um Carlos geführt.
       
       Von welcher Zeit sprechen Sie? 
       
       Von der Zeit nach der gescheiterten Flugzeugentführung nach Entebbe 1976.
       Diese gemeinsame Aktion von PFLP und RZ hatte zum Ziel, Gefangene aus
       israelischen und deutschen Knästen zu befreien. Das wurde nicht erreicht
       und das Kommando mit den RZ-Mitgliedern Brigitte Kuhlmann und Wilfried Böse
       wurde getötet. Die RZ hinterfragten in der Folge die praktische
       Zusammenarbeit mit palästinensischen Organisationen sowie Aktionsformen wie
       Flugzeugentführungen.
       
       Sie haben zu Beginn der 1970er Jahre in Bochum im Politischen Buchladen
       gearbeitet, wie zuvor auch Johannes Weinrich. Eine Filmszene zeigt, wie
       Weinrich ein palästinensisches Kommando unterstützen soll. Das
       PFLP-Kommando versuchte auf dem Flughafen Orly eine israelische
       Passagiermaschine mit einer Rakete zu treffen. Wie gut kannten sie
       Weinrich? 
       
       Als Weinrich Anfang 1975 das erste Mal ins Gefängnis kam, hielt ich das für
       einen Justizirrtum. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er etwas mit dem
       Anschlag zu tun hatte. Ich kannte die Texte der RZ und die Aktionen, zu
       denen sie sich erklärt hatten. Die Palette reichte von gefälschten
       Fahrkarten über Brandanschläge auf Autos von Miethaien bis hin zu Bomben
       vor Konzernen wie ITT. Dass es auch noch eine andere Seite gab, konnte man
       zwar zwischen den Zeilen lesen, aber ohne zu wissen, was sie praktisch
       beinhaltete. Diese Seite der RZ war abgeschottet. Darüber wurde nicht mit
       allen diskutiert. Das habe ich auch akzeptiert.
       
       Warum das? 
       
       In klandestin operierenden Organisationen gibt es einen Widerspruch
       zwischen notwendiger Abschottung und dem Bedarf an Transparenz. Der lässt
       sich letztendlich nur lösen durch das Vertrauen, das man Leuten
       entgegenbringt, die schon länger dabei sind oder politisch erfahrener sind
       als man selbst. Ich hatte damals keinen Anlass, Weinrich zu misstrauen,
       auch wenn ich sicherlich nur Bruchteile von dem wusste, was ihn
       beschäftigte.
       
       Es gibt viele Filmszenen mit Deutschen in palästinensischen
       Ausbildungslagern. Haben Sie selber auch eine militärische Ausbildung in
       den Camps der PFLP durchlaufen? 
       
       Es hat Anfang 1976 ein Camp gegeben, in dem auch RZ-Leute waren. Darüber
       berichtet Magdalena Kopp in ihrem Buch, und Hans-Joachim Klein erwähnt es
       ebenfalls. Das war nur wenige Wochen nach Opec. Über die Zeit in dem Camp
       wurde von den Einzelnen sehr unterschiedlich berichtet. Einige fühlten sich
       ausgesprochen wohl. In der BRD stand man permanent unter Verfolgungsdruck.
       Außerdem relativierten sich dort viele Probleme, mit denen sich die
       bewaffneten Gruppen in der westlichen Welt herumschlugen. Vor dem
       Hintergrund der Erzählungen der palästinensischen Kämpfer, die auf der
       Flucht waren oder in Lagern lebten, schienen die eigenen Zweifel banal. Das
       hat sich bestimmt auch politisch in den Köpfen niedergeschlagen und erklärt
       nicht zuletzt, warum sich einzelne für Aktionen wie Opec oder Entebbe
       entschieden haben. Es gab aber auch andere, die mit der militärischen
       Ausbildung nichts anzufangen wussten, denen nicht einleuchtete, warum sie
       auf dem Bauch durch den Sand robben mussten. Da prallten also auch
       unterschiedliche Welten aufeinander.
       
       Weinrich blieb bis zu seiner Festnahme Mitte der 1990er Jahre Carlos’
       treuester Begleiter. Haben Sie ihn nach der Spaltung der RZ in eine mit
       Carlos weiterhin agierende Minderheit und dem Hauptstrom der Gruppierung,
       der sie angehörten und die dies ablehnte, noch einmal gesehen? 
       
       Eine solche Spaltung der RZ hat es in meinen Augen nicht gegeben. Das wurde
       zwar oft behauptet, ist aber trotzdem falsch. Ich würde eher sagen, dass in
       der Auseinandersetzung um die gescheiterte Gefangenenbefreiung, die
       Flugzeugentführung nach Entebbe 1976 ein Streit um mögliche Konsequenzen
       entbrannte, der zu einem vorläufigen Bruch führte. Es gab vorübergehend
       zwei RZ-Gruppierungen, die sich in der praktischen Reaktion auf das, was
       nach Entebbe passieren sollte, unterschieden. Das blieb allerdings ein
       theoretischer Streit, weil die wüsten Vergeltungspläne der einen Fraktion
       durch die andere zum Glück verhindert wurden. Dass sich zunächst Johannes
       Weinrich und später auch Magdalena Kopp der Gruppe um Carlos angeschlossen
       haben, hat mit dieser Auseinandersetzung innerhalb der RZ allerdings nichts
       zu tun. Ausschlaggebend dafür waren eher die Entwicklungen nach dem
       Deutschen Herbst 1977 in der BRD nach der Offensive der RAF und den Toten
       im Gefängnis von Stuttgart-Stammheim. Und der Tod von PFLP-Chef Wadi Haddad
       im April 1978 hat sicherlich auch eine Rolle gespielt.
       
       Carlos gründete Ende der 70er Jahre seine eigene Gruppe. Wann haben Sie ihn
       das letzte Mal getroffen? 
       
       Getroffen habe ich mich mit Weinrich und Kopp. Anfang der 1980er war Carlos
       ein letztes Mal kurz dabei.
       
       Um was ging es dabei? 
       
       Zwischen 1976 und 1978 ist Carlos raus aus der PFLP und hat eine Gruppe
       aufgebaut, die sich Gruppe Internationaler Revolutionäre nannte. Dieser
       Gruppe hatten sich Weinrich und Kopp angeschlossen. Ihr Ziel war der Aufbau
       eines globalen Netzwerks der unterschiedlichsten bewaffneten
       Organisationen. Vor allem sollte es um gegenseitige logistische
       Unterstützung gehen. Die Gruppe hatte Stützpunkte in verschiedenen
       Ostblockländern und arabischen Staaten.
       
       Wussten Sie, dass die Carlos-Gruppe so eng mit solchen staatlichen Stellen
       dort verknüpft war? 
       
       Ich wusste es nicht, konnte mir aber auch nicht vorstellen, dass die Gruppe
       ohne staatliche Rückendeckung so viel Bewegungsfreiheit haben würde. Zu der
       Frage hatten Weinrich und ich sehr unterschiedliche Einschätzungen.
       Johannes Weinrich formulierte nach wie vor den Anspruch, RZ-Mitglied zu
       sein, und verstand sich als Vertreter der RZ in der Carlos-Gruppe. Das
       stand im ziemlichen Gegensatz zu den Diskussionen, die damals innerhalb der
       RZ geführt wurden.
       
       Die RZ standen Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre vor einem Neuanfang,
       einer Neuformulierung ihrer Politik. Dazu gehörte auch der Rückzug aus den
       internationalen Verbindungen. Sie wollten sich wieder stärker auf die
       sozialen Kämpfe in der BRD beziehen, auf die Anti-AKW-Bewegung, den
       Häuserkampf, die Frauenbewegung. Eine Reihe von Leuten waren in der Folge
       der Entwicklungen zwischen 1976 und 1978 ausgestiegen. Andere waren im
       Knast, „verbrannt“, illegal oder tot. Die alten Kontakte hatten nur noch
       Einzelne. Insofern ist es reines Wunschdenken, wenn der Darsteller von
       Weinrich im Film sagt, hinter ihm stünden an die 40 RZ-Mitglieder. Das
       Gegenteil war der Fall: Die neu gegründete RZ hatte diese Kontakte für sich
       abgebrochen.
       
       Die Revolutionären Zellen verwarfen also das Konzept des internationalen,
       antiimperialistischen Kampfs. Sie begingen fortan weniger spektakuläre
       Anschläge im Inland. Gab es nach dem Desaster der Frühphase, Anschlägen mit
       antisemitischer Tönung, nicht Leute, die forderten, sich Ende der 70er
       Jahre einfach aufzulösen? 
       
       Solche Stimmen gab es auch. Mir ging es aber um eine Kontinuität
       bewaffneter Gruppen. Um die Behauptung, dass diese in der Lage sind, sich
       selbst zu korrigieren und nicht zwangsläufig, wie gerne unterstellt, in die
       militärische Eskalation abdriften. Aus persönlichen Gründen habe ich den
       Kontakt zu Johannes Weinrich und Magdalena Kopp nicht völlig eingestellt.
       Aber der Konflikt mit ihnen spitzte sich zu. Ihr Konzept einer Gruppe, die
       im luftleeren Raum agiert und zumindest auf staatliche Duldung angewiesen
       ist, stand im krassen Gegensatz zu dem sozialrevolutionären Anspruch der
       RZ. Die Carlos-Gruppe versuchte zwar anfangs, die verschiedenen Staaten
       gegeneinander auszuspielen und so die eigene Selbständigkeit zu wahren.
       Aber das überzeugte mich nicht und hat ja auch nicht funktioniert.
       
       Kopp und Weinrich agierten im arabischen Kontext, haben Sie über Israel
       gesprochen? 
       
       Nein, das war zwischen uns kaum Thema. Mir blieb die politische
       Stoßrichtung der Carlos-Gruppe unklar. Die neue RZ hatte sich vom platten
       Antizionismus der 70er Jahre verabschiedet.
       
       Der am Wiener Opec-Anschlag beteiligte Hans-Joachim Klein spielt in
       Assayas’ Film eine sehr selbstkritische Rolle. Er hatte die RZ in den 70er
       Jahren verlassen und wurde erst 1998 in Frankreich aufgespürt und
       verhaftet. Wie finden Sie ihn dargestellt? 
       
       Klein hat nach seiner Verhaftung 1998 entgegen allem, was er zuvor beteuert
       hat, nicht lange gezögert, einen früheren Mitstreiter schwer zu belasten,
       um seine eigene Situation zu verbessern. Assayas’ Film zeigt eine
       idealisierte Figur von Klein. Von allen RZlern, die im Film dargestellt
       werden, ist Klein der Einzige, der weder Verstand noch Moral verloren hat.
       Nur er meldet frühzeitig Bedenken gegen Opec und Entebbe an. Leider hat er
       dies innerhalb der RZ aber nicht getan. Er behauptet, dass er das nicht
       gekonnt hätte, weil es ihn den Kopf gekostet hätte. Eine Szene des Films im
       Aostatal suggeriert, es wäre geplant gewesen, ihn umzubringen. Zu diesem
       Zeitpunkt hatte er noch die volle Unterstützung der RZ. Die Pistole, die er
       im April 1977 dem Spiegel geschickt hat, hatte er sich kurz davor von
       Leuten der RZ bringen lassen. Gibt man jemandem eine Waffe, den man
       umbringen will?
       
       Bekanntlich hat die Carlos-Gruppe auch andere, die sie für Verräter hielt,
       hingerichtet. 
       
       Er wollte aber nicht die Carlos-Gruppe verlassen, die gab’s ja 1977 noch
       gar nicht, sondern die PFLP von Wadi Haddad.
       
       Und die hat so etwas nicht praktiziert? 
       
       Zumindest konnte auch Carlos die PFLP/Outside-Operation verlassen, ohne
       umgebracht zu werden.
       
       Also, Sie halten das wirklich alles für eine paranoide Projektion von
       Klein? 
       
       Ich glaube, Klein hätte in Absprache mit der PFLP und den RZ einen anderen
       Weg wählen können. Stattdessen hat er seinen Ausstieg mit Hilfe der
       Frankfurter Spontiszene und des „Spiegels“ inszeniert. In Frankfurt gab es
       zu der Zeit eine Spontiszene, die den RZ ursprünglich nahestand. Diese
       Leute hatten 1976 selber schlechte Erfahrungen mit ihrer Militanz gemacht
       und appellierten deshalb auch an die RZ, „die Waffen niederzulegen“. Sie
       benutzten Klein für ihre Kritik an den bewaffneten Gruppen.
       
       Die RZ wendeten sich in den 1980er Jahren ausdrücklich gegen
       Antiamerikanismus und einen simplen linken Antiimperialismus. Gleichzeitig
       deckten sie aber ihre (früheren) Kampfgefährten, die für palästinensische
       Terrorgruppen arbeiteten. Wie geht das zusammen? 
       
       Hätten wir uns öffentlich von den Leuten distanzieren sollen? Und wie hätte
       eine solche Distanzierung aussehen sollen, ohne die falsche Seite zu
       bedienen? Die RZ haben sich anders entschieden: Sie haben die Kontakte
       abgebrochen und zugleich versucht, sich inhaltlich deutlich zu
       positionieren. Es gibt eine Reihe von Texten der RZ, aus denen dies
       deutlich hervorgeht, der Revolutionäre Zorn 6, das Papier zur
       Friedensbewegung et cetera.
       
       1991 veröffentlichte eine RZ-Gruppe das Papier „Gerd Albartus ist tot“. Sie
       machte damit öffentlich, dass Gerd Albartus, einer ihrer früheren
       Mitstreiter, 1987 durch Palästinenser beziehungsweise die Carlos-Gruppe
       ermordet wurde. Herr Kram, Sie sollen das Papier verfasst haben. Warum
       dauerte es nach dem Mord bis zu einer Reaktion ihrer Gruppe weitere vier
       Jahre? 
       
       Weil wir davon selber erst Jahre später erfahren hatten. Gerd Albartus war
       nach Damaskus gefahren, um die Carlos-Gruppe zu treffen. Als er von der
       Reise nicht mehr zurückkam, gingen wir davon aus, dass er sich abgesetzt
       hatte. Zum selben Zeitpunkt wurde verstärkt nach RZ-Mitgliedern in der BRD
       gefahndet.
       
       Gibt es Hinweise, warum er umgebracht wurde? 
       
       Ein Grund war – und das bestätigt Kopp in unterschiedlichen Varianten –
       dass er sich noch Stasi-Kontakte zunutze gemacht hat, nachdem die
       Carlos-Gruppe in den Ostblockstaaten schon längst nicht mehr erwünscht war.
       Deswegen galt er als Verräter. Bizarrerweise hat Gerd 1985 Magdalena die
       Ausreise aus Deutschland über den Ostblock organisiert. Außerdem soll er
       unsorgfältig recherchiert und Geld unterschlagen haben. Und dann noch seine
       Homosexualität! Man kann wohl unterstellen, dass in Gruppen, die den Bezug
       zur sozialen Realität verloren haben, nonkonformes Verhalten ohnehin
       verdächtig ist und im schlimmsten Fall bestraft wird. Durch seinen Tod kam
       bei uns die alte Auseinandersetzung um Entebbe und Opec 1990 wieder hoch.
       Dies führte zu einer kritischen Bestandsaufnahme der gesamten RZ-Politik.
       
       Die RZ lösten sich in der Folge Anfang der 1990er auf. Die Carlos-Gruppe
       hätte ohne Logistik aus den Ostblockstaaten und die Unterstützung
       arabischer Diktaturen nicht existieren können. Gilt das auch für Sie, die
       sogenannte Feierabendguerilla, die den Mehrheitsflügel dieser bewaffneten
       Formation in der alten BRD ausmachte? 
       
       Die Diskussion Anfang der 80er Jahre beinhaltete auch, dass die RZ sich
       logistisch vollständig auf eigene Beine stellte. Wir wollten uns unabhängig
       machen von allen Kontakten, die wir nicht einschätzen konnten. Das war Teil
       des Bruchs.
       
       Also hatten Sie auch keine weiteren Kontakte zur DDR oder zu anderen
       Ostblockstaaten? 
       
       Nein, zum Glück, deswegen bin ich nach 1989/90 auch nicht aufgeflogen und
       festgenommen worden. Ich war längere Zeit von der Bildfläche verschwunden.
       2006 habe ich mich selbst gestellt, nachdem die Urteile im Berliner
       RZ-Prozess rechtskräftig waren. Ich fühlte mich als Fossil einer
       Geschichte, die in dieser Form an ihr Ende gelangt war.
       
       Am 4.November (2010) startet der Carlos-Film. Was halten Sie von ihm? 
       
       Der Film ist auf den ersten Blick schwer angreifbar. Er ist spannend
       gemacht und suggeriert, dass er sich an die Fakten hält. Doch vieles stimmt
       nicht: Klein war nicht der einzige aufrechte, kritische Denker der RZ. Und
       die Frauen verfügten über ganz andere Möglichkeiten als Fanatismus,
       Rücksichtslosigkeit oder Verführungskünste. Leider beurteilt Assayas die
       70er Jahre nach heutigen Maßstäben, er macht wenig Anstalten, die Stimmung
       dieser Zeit einzufangen. Vor allem aber signalisiert er, dass alles, was
       einmal als Utopie begann, irgendwann im Schrecken endet. Wer vom Film
       ausgeht, wird die RZ-Geschichte für reinsten Horror halten. Aber das ist
       sie nicht. Deshalb würde ich mir wünschen, dass die Leute den Film als
       Anregung sehen, sich auch mit den Dingen dahinter zu beschäftigen. Der
       wesentliche Teil der RZ-Geschichte kommt überhaupt nicht zur Sprache und
       ist über Carlos auch nicht zu thematisieren.
       
       6 Nov 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Andreas Fanizadeh
   DIR Christoph Villinger
       
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