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       # taz.de -- Studie zu Absprachen in Strafverfahren: Deals am Gesetz vorbei
       
       > Juristen haben untersucht, ob Gerichte sich an die Regeln zur
       > „Verständigung“ im Strafprozess halten. Informelle Absprachen sind weiter
       > beliebt.
       
   IMG Bild: 55% der befragten Amtsrichter bestätigen aus ihrer eigenen Praxis infromelle Deals
       
       Freiburg taz | Immer noch gibt es an deutschen Strafgerichten informelle
       „Deals“, die die Vorgaben des Gesetzes nicht beachten. Dies ergibt [1][eine
       Studie] im Auftrag des Bundesjustizministeriums, die an diesem Donnerstag
       veröffentlicht wurde. Ministerin Christine Lambrecht (SPD) prüft nun, „ob
       weitere gesetzliche Regelungen erforderlich sind“.
       
       Eine typische Absprache sieht so aus: Der Täter gesteht die Tat und bekommt
       dafür Strafnachlass. In der Praxis ist ein Nachlass um 20 bis 25 Prozent
       üblich. Für die Gerichte sind Absprachen attraktiv, weil sich komplizierte
       Indizienprozesse durch das Geständnis oft erheblich abkürzen lassen.
       
       Üblich sind solche Absprachen aber nicht nur bei komplexen
       Wirtschaftsprozessen, sondern auch bei Drogen-, Diebstahls- und
       Betrugsverfahren. Wenn es um Mord und Totschlag geht, kommen sie dagegen
       kaum vor. Laut Statistischem Bundesamt beruhten 2018 rund zehn Prozent
       aller Landgerichts-Urteile auf einer Absprache.
       
       Die Deals waren rechtsstaatlich aber immer stark umstritten. Gegner sehen
       die Gefahr, dass nicht mehr versucht wird, die Wahrheit zu ermitteln und
       die Strafjustiz durch den „Handel mit der Gerechtigkeit“ an Legitimation
       verliert. Einerseits könnten Angeklagte bei solchen Deals mit der
       Androhnung einer besonders hohen Strafe zu einem (vielleicht falschen)
       Geständnis erpresst werden. Andererseits könnten geschickte Anwälte für
       ihre Mandanten eine unangemessen milde Strafe aushandeln.
       
       ## Deals vor allem an Amtsgerichten
       
       Deals im Strafverfahren gibt es in Deutschland schon seit den
       1970er-Jahren. Seit 1997 hat sie der Bundesgerichtshof ausdrücklich
       erlaubt, Seit 2009 gibt es eine gesetzliche Regelung. Sie soll
       sicherstellen, dass das Urteil „tat- und schuldangemessen“ bleibt. Die
       Absprache muss transparent in den Prozess eingeführt werden. Das
       Bundesverfassungsgericht hat die gesetzliche Regelung [2][2013
       grundsätzlich gebilligt].
       
       Allerdings war kurz vor der Karlsruher Verhandlung bekannt geworden, dass
       sich viele Richter bei ihren Deals nicht an die gesetzlichen Vorgaben
       halten, sondern „informelle Absprachen“ nach eigenem Gutdünken treffen. Die
       Verfassungsrichter erklärten solche informellen Deals für „unzulässig“ und
       gaben dem Gesetzgeber auf, die Praxis zu beobachten und Abhilfe zu
       schaffen.
       
       Deshalb hat das Justizministerium drei Rechtsprofessoren mit einer
       Evaluation beauftragt. Die 539-seitige Studie von Karsten Altenhain,
       Matthias Jahn und Jörg Kinzig wurde nun am Donnerstag veröffentlicht. Die
       Professoren versuchten, sich mit Aktenanalysen, Fragebögen und Interviews
       mit Richtern, Staatsanwälten und Verteidigern ein Bild von der Praxis zu
       machen.
       
       Wichtigstes Ergebnis: Die informellen Deals gibt es immer noch. 55 Prozent
       der befragten Amtsrichter bestätigten dies aus ihrer eigenen Praxis, ebenso
       22 Prozent der Richter am Landgericht. Am Amtsgericht komme auf jede dritte
       gesetzeskonforme Absprache ein informeller Deal, räumten die befragten
       Richter ein. Informelle Deals scheinen also an Amtsgerichten, wo man im
       Massengeschäft ohnehin oft etwas hemdsärmelig vorgeht, deutlich häufiger zu
       sein als an den höherrangigen Landgerichten.
       
       ## Der Bundestag ist am Zug
       
       Die informelle Erledigung ermöglicht es, auch Inhalte in die Absprache
       einzubeziehen, die eigentlich unzulässig sind: etwa die Zusage einer
       exakten Strafhöhe, den Verzicht auf ein Rechtsmittel, die Anwendung von
       Jugendstrafrecht oder die Vermeidung von Sicherungsverwahrung. Viele
       Richter werfen der gesetzlichen Regelung fehlende Praxistauglichkeit vor.
       Außerdem seien die Anforderungen, etwa zur Protokollierung der
       Verhandlungen, unklar. Inhaltlich skandalöse Urteile deckte die Studie
       nicht auf.
       
       Das Bundesverfassungsgericht hatte eigentlich die Staatsanwaltschaft als
       „Wächter des Gesetzes“ benannt. Sie solle sicherstellen, dass bei den
       Absprachen die Regeln eingehalten werden. Doch in der Praxis merken die
       Beteiligten davon wenig. Selbst unter Staatsanwälten hält man die eigenen
       Einflußmöglichkeiten für gering.
       
       Die Verfasser der Untersuchung schilderten ebenso überrascht wie empört,
       dass viele Gerichte die Studie geradezu boykottierten – indem sie sich
       nicht an Befragungen beteiligte und keine Akten zugänglich machten. Der
       Kern der Ergebnisse sei dennoch repräsentativ.
       
       Es ist damit zu rechnen, dass die Studie die alte Diskussion um die
       Zulässigkeit von Absprachen im Strafverfahren wieder aufflammen lässt. Nach
       den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts muss der Bundestag nun
       gegensteuern und wenn ihm das nicht gelingt, die Möglichkeit zu Absprachen
       generell abschaffen. Studien-Mitautor Matthias Jahn hält dies jedoch für
       die falsche Option. „Der Gesetzgeber sollte eher versuchen, die Regeln so
       handhabbar zu machen, dass sie von der der Praxis auch akzeptiert werden.“
       
       5 Nov 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://open-access-Link:%20https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/9783748922094/die-praxis-der-verstaendigung-im-strafprozess
   DIR [2] /Urteil-zu-Richterabsprachen/!5070995/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Christian Rath
       
       ## TAGS
       
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