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       # taz.de -- Protestbewegung in Polen: Geister überlisten, Untote verjagen
       
       > Die neue polnische Protestbewegung kritisiert viel mehr als nur das
       > Abtreibungsverbot. Und sie spielt klug mit Traditionen der Literatur.
       
   IMG Bild: Frauenstreik mit schlauen Parolen und Symbolen: hier bei einer Demo in Danzig am 28.10
       
       Als am Abend vor Allerheiligen junge Menschen aus dem Fenster eines
       Wohnblocks in der [1][Warschauer Mickiewiczstraße] die Verse des polnischen
       Nationalepos „Dziady“ („Ahnenfeier“) von Adam Mickiewicz schreiend
       rezitierten, hätte dies nicht symbolhafter sein können. Stark drängte sich
       die Erinnerung an die Inszenierung dieses romantischen Theaterstückes 1968
       am Warschauer Nationaltheater auf, deren Absetzung durch das damalige
       Regime der Volksrepublik eine studentische Protestwelle ausgelöst hat. Und
       doch lassen sich keine einfachen Parallelen zwischen beiden Szenen von 1968
       und 2020 herstellen.
       
       So eindeutig sich mit dem Ort der Rezitation – direkt gegenüber von
       Jarosław Kaczyńskis Villa – der Protest wieder an die nun
       katholisch-konservativ nationale Staatsführung richtete, so deutlich
       zeigten sich auch der Unterschied zu den Protesten der sechziger Jahre und
       ein kultureller Wandel.
       
       Diesmal ist kein bürgerlicher Kulturtempel wie das Theater die Bühne,
       sondern ein Plattenbau. Vor allem ist es die Sprache der [2][seit dem 22.
       Oktober andauernden, landesweit organisierten Demonstrationen], die eine
       Differenz zu den nationalistisch-religiösen Parolen aus Regierungskreisen
       und politisch stark engagiertem Klerus markiert. Ihre Wut gegen die
       Verschärfung des Abtreibungsverbots drücken die Frauen mittels einer
       vulgären Direktheit aus: „Jebać PiS!“ (Fuck PiS!) / JBC PIS, auch getarnt
       als ***** ***, wie auch „Wypierdalać“ (Get the fuck out).
       
       ## Wort und Bild sind stärker
       
       Damit ist es ihnen gelungen, ihrer Wut und Erschütterung eine schnell viral
       gehende Protestform zu verleihen, ohne auf gewaltsame Konfrontation zu
       setzen. Den primitiv anmutenden männlichen Gruppen, die sich, angestachelt
       durch Kaczyńskis Aufruf, die Kirchen um jeden Preis zu schützen, formierten
       und durchaus physische Gewalt einsetzten, wurde die sichtbare Schlagkraft
       von Wort und Bild entgegengesetzt.
       
       Der rote Blitz – das Emblem von Strajk Kobiet (Streik der Frauen) –, der
       schwarze Regenschirm, der Bügel und mittlerweile auch die zu einer Ikone
       gewordene Erscheinung einer jungen Frau mit nacktem Oberkörper,
       ausgestreckten Mittelfingern und Bengalo auf einer der Kundgebungen in
       Warschau.
       
       Der mehrfach herangezogene plakative Vergleich mit Delacroix’ Gemälde „Die
       Freiheit führt das Volk“ von 1830 gilt nicht mehr, denn solch männlich
       dominierte Vorstellungen von Frauenkörpern werden nun im Polen der
       Gegenwart selbstbewusst durch eine eigene Bildkraft ersetzt.
       
       ## Enthüllung der nackten Wahrheit
       
       Die Enthüllung der sogenannten nackten Wahrheit in einer
       malerisch-weiblichen Allegorie, die seit jeher jede gewaltsam ausbrechende
       Revolution begleitete, wurde mit diesem Akt der Selbstentblößung
       diskreditiert. Mit dieser souveränen Geste wird das Abtreibungsverbot
       seiner hochtrabenden Rhetoriken der religiösen Apologie beraubt und direkt
       auf die Ebene der konkreten Lebens- und Leidenserfahrung einer sich
       empathisch solidarisierenden, organisiert widerstandsfähigen Generation
       heruntergestuft.
       
       Allein der glänzende Nagellack der erhobenen Faust auf einem der Bilder
       sagt schon alles: Das in diesem Kontext zirkulierende Motiv setzt auf
       solidarische Entschlossenheit als Antidot gegen physische Überlegenheit.
       Der Schriftzug „Dość“ (Genug) signalisiert zugleich, dass es sich
       mittlerweile um viel mehr handelt als allein um die Zurückweisung des neuen
       Anti-Abtreibungs-Gesetzes.
       
       Dieser Frauenrevolte geht es um Menschenrechte, jene, die durch den
       aktuellen staatlichen Diskurs angegriffen werden wie etwa auch die von
       LGBTQ oder Behinderten. Paradoxerweise wird durch die Verwendung von
       Vulgarismen das erhabene Mauerwerk der in sakralpolitische Hochtöne
       eingehüllten männlichen Autorität angegangen.
       
       ## Zur Begrüßungsformel umgeschmiedet
       
       Der Spruch „Jebać PiS!“ wurde schnell landesweit in tanzbare
       Techno-Beat-Adaptationen übersetzt, auf der Ukulele gespielt, in gestreamte
       Protestsongs eingearbeitet und sogar zur Begrüßungsformel umgeschmiedet.
       Somit wurde das Gewaltpotenzial der Vulgarität gebrochen. Der Spruch
       avancierte zu einem rhythmischen, in den eher humorlosen Coronazeiten sogar
       unterhaltsamen Ausdruck des Zorns im programmatisch gewaltlosen Protest.
       
       Mittlerweile ist das Akronym der regierenden Partei (PiS) nicht mehr ohne
       diesen negierenden Zusatz zu denken. Während die Regierungs- und
       Kirchenkreise immer noch ihre Empörung angesichts der präzedenzlosen
       Direktheit dieser offenen, das Patriarchat schlagartig entzaubernden
       Blasphemie kultivieren, floriert bei den Protestierenden eine ausgeprägte,
       souveräne Art der zitierfreudigen Ironie und des weiblichen Widerstands.
       
       [3][Kunst und Literatur], inklusive fiktiver, umgearbeiteter und viral
       gehender Zitate aus schulischen Pflichtlektüren, Sprichwörtern und
       Computerspielen begleiten die befreiende Enthemmung einer ganzen
       Generation. Was insofern auf den ersten Blick wie ein Zusammentreffen von
       Jugendkultur und Feminismus erscheint – ein bisschen Lady Gaga, ein
       bisschen Billie Eilish –, demontiert das männliche Selbstverständnis einer
       konservativen, nationalen Identität.
       
       ## Lest Maria Janion!
       
       Wenn auf Plakaten zu lesen ist „Lest Maria Janion!“, wird auch gerade auf
       die Analyse dieser Literaturwissenschaftlerin von Mickiewiczs „Ahnenfeier“
       als Form der Bewältigung von nationalen Wiedergängern Bezug genommen. Die
       im August dieses Jahres im Alter von 93 Jahren verstorbene Maria Janion war
       nicht nur Literaturwissenschaftlerin, sondern auch Ikone des polnischen
       Feminismus. Sie beschrieb, wie zu diesen Wiedergängern auch heute noch die
       männliche Vorstellung einer göttlichen Auserwähltheit, Messianismus und
       vermeintliche Aufopferung für die Nation zählen.
       
       In Mickiewiczs Drama spielen akademische Vereinigungen von jungen
       rachsüchtigen Männern die Hauptrolle: Romantische Dissidenten, Gefangene
       und Märtyrer leiden an der Unterdrückung durch den Zaren genauso wie unter
       ihren eigenen inneren Konflikten und Phantasmen als gesegnete Akteure der
       messianischen Befreiung. Im dunklen, gespenstischen zweiten Teil des Dramas
       geht es allerdings gerade um die Beschwörung von Geistern, Dämonen und
       Untoten, ihre zyklische Hervorrufung, Überlistung und Vertreibung.
       
       In der Verfilmung der „Ahnenfeier“ von 1989 wurde diese Rolle
       markanterweise von einer Frau übernommen. 2020 verwandelt sich dieses
       vorchristliche slawische Ritual in einen Befreiungsakt: Die auf der
       Fensterbühne durch ein Mikrofon ausgeschrienen Verse des altehrwürdigen
       Gespensterdramas, begleitet von Technosound, weißem Rauch und bengalischem
       Feuer, verkörpern die konkretisierende Kraft dieser Revolte. Mickiewiczs
       gegen Untote gerichtete altpolnische Ritualansprache „A kysz!“
       (Verschwinde!), ausgerufen direkt vor Kaczyńskis Haus, verwandelte den
       Mythos, das Pathos und das Epos in nackte Aktualität.
       
       Diese alte Beschwörungsformel legte kurzzeitig den tieferen, kulturell
       verankerten und über die bloße Vulgarität hinausgehenden Sinn des „JBC PIS“
       frei. Ein avantgardistisch brutaler Umgang mit der traditionellen Kultur,
       ihre pauschale Verneinung, kann den Demonstrierenden also nicht vorgeworfen
       werden. Vielmehr werden wir Zeugen eines Kulturexorzismus.
       
       12 Nov 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Konflikt-um-Abtreibungsverbot/!5724935/
   DIR [2] /Konflikt-um-Abtreibungsverbot-in-Polen/!5726275/
   DIR [3] /Literaturnobelpreis-fuer-Olga-Tokarczuk/!5628930/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Mateusz Kapustka
       
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