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       # taz.de -- Neues Album von Good Bad Happy Sad: Gib mir mal die Sonnenbrille
       
       > „Shades“, das Album der Band Good Sad Happy Bad um Komponistin Mica Levi,
       > kratzt dem Wohlklang die Augen aus – und macht dennoch froh.
       
   IMG Bild: Der Stil ist eher casual: Good Bad Happy Sad mit Mica Levi, ganz rechts
       
       Lang gehaltene Saxofontöne, die ineinandergleiten. Erst sind sie warm, dann
       plötzlich ändert sich ihre Stimmung und die Musik klingt unangenehm eng,
       fast schon unheimlich. Erst mit dem Einsatz von Gitarre und Drums wird
       erkennbar, dass man sich im wohligen Gefilde eines Popsongs befindet.
       Einer, der sogar recht fröhlich wirkt. Ein [1][Popsong], bei dem kurze Zeit
       später auch noch ein heller Gesang einsetzt, dessen Textzeilen aufs erste
       Hören beschwingt über die Sonnenseiten des Lebens reflektieren.
       
       So beginnt „Shades“, Titelsong des neuen Albums der Londoner Band Good Sad
       Happy Bad. Gegründet von Mica Levi, Marc Pell und Raisa Khan machten diese
       drei Brit:innen bis 2016 unter dem Namen Micachu & The Shapes Musik. Das
       Trio hatte sich auf der Guildhall School of Music & Drama kennengelernt,
       einer der angesehensten Musikhochschulen Großbritanniens.
       
       Sie studierten Violine, klassisches Piano, Schlagzeug und Komposition,
       arbeiteten aber meist allein. „Ich erinnere mich, dass wir es genossen
       haben, vom einsamen Produzieren am Computer wegzukommen“, erinnert sich
       [2][Mica Levi] an die Gründungsphase. Als Micachu & The Shapes ließen sie
       ihr digitales Equipment dann zwar auch nicht im Schrank, aber sie setzten
       es erst mal anders ein und verzichteten auf alles, was zu sehr nach
       musikalischen Konventionen klingen könnte.
       
       Im Geiste von Punk treffen bei Good Sad Happy Bad digitale Geräusche auf
       abgedrehten Gesang; seltsam gestimmte Gitarren auf zweckentfremdete
       Alltagsgegenstände. Während Micachu & The Shapes auf den ersten beiden
       Alben „Jewellery“ (2009) und „Never“ von 2012 ausschließlich die
       Kompositionen von Mica Levi gespielt hatten, entstand ihr drittes Album
       2015 gemeinsam bei einer ausgedehnten Jamsession.
       
       Weil diese Arbeitsweise mittlerweile zentral für die Band geworden ist, hat
       sie sich nach ebendiesem Album umbenannt: Auf dem ersten Werk als Good Sad
       Happy Bad rückt Levi noch weiter aus dem Fokus. Die meisten Songs auf
       „Shades“ singt nun Keyboaderin Raisa Khan und das neue Bandmitglied CJ
       Calderwood spielt Saxofon.
       
       „Beim Saxofon denkt man meist an Jazz“, kommentiert Calderwood Einflüsse
       und Inspiration. „Ich nähere mich dem Instrument eher von der
       elektronischen Musik an, mein Ausgangspunkt ist Clubmusik. Ich versuche,
       das Saxofon als elektronisches Instrument zu behandeln und synthetischer
       klingen zu lassen.“ So ist das Saxofon oftmals kaum von einem Synthesizer
       zu unterscheiden, die veränderten, übereinandergeschichteten Schleifen
       wabern durch die Songs, scheinen sich manchmal völlig losgelöst von ihnen
       zu bewegen und lösen sich nicht immer in Konsonanzen auf. Dieses schräge,
       oft verstörende Saxofon zeigt, dass hier unter der Oberfläche etwas
       brodelt.
       
       ## Unheimliche Momente
       
       Das unheimliche Moment dieser Musik erinnert dabei mitunter an das Klang
       gewordene Unwohlsein der Soundtracks von Mica Levi. Levi spielt nicht nur
       diese schräge Gitarrenmusik, sie ist auch als DJ gefragt, produziert
       Clubtracks, den elektronischen R&B der [3][Londoner Sängerin Tirzah] und
       komponiert Auftragsmusik für die Kinoleinwand. So versorgte Levi etwa
       Jonathan Glazers Spielfilm „Under the Skin“ mit einer Kakofonie aus
       zerhackten Streichern, die Scarlett Johansson als gleichsam verführerisches
       und mörderisches Alien begleitete.
       
       Dafür bekam Levi 2014 den Europäischen Filmpreis, drei Jahre später war
       Levis Vertonung der dunklen Wolke, die in „Jackie“ über der von Natalie
       Portman gespielten Jackie Kennedy schwebt, sogar für den Oscar nominiert.
       
       Jene Qualität, die Levis Soundtracks so eindringlich macht, inkorporieren
       also auch die neuen Songs der Band, die nun Good Sad Happy Bad heißt. Sie
       mögen manchmal happy, gar beschwingt klingen, doch erkunden sie ebenso die
       anderen Spektren, die der Bandnahme bereithält. „Unsere Songs fühlen sich
       am Anfang oft ganz anders an als am Ende“, erklärt Mica Levi. „Good Sad
       Happy Bad heißt auch, die verschiedenen Kombinationen dieser Elemente immer
       präsent zu haben. Ich glaube, es ist realistischer, wenn auf mehreren
       Ebenen gleichzeitig verschiedene Sachen passieren.“
       
       ## Ein Tag im Park
       
       So etwa beim Titelsong „Shades“, in dem sich die ineinandergleitenden
       Saxofontöne des Anfangs immer wieder erheben und einen Kontrast bilden zum
       hellen Gesang von Raisa Khan und den unaufgeregten Drums von Marc Pell. Das
       Video dazu zeigt die Band an einem Sonnentag im Park, allerdings sind
       Farben und Lichter vollkommen verdreht. Auch die Gitarre schlingert wie so
       oft hin und her. Bilder und Musik suggerieren: Hier ist nicht alles so
       schön, wie es scheint. Und auch die Sonnenseiten, die dem lyrischen Ich
       angeraten werden, zu sehen, sind eine Chiffre.
       
       Der Text geht weiter: „These bright sigths are hurting my eyes / Pass me my
       shades.“ Übersetzt in etwa: „Die Sonnenseiten blenden mich, reich mir meine
       Sonnenbrille.“ Aber natürlich klingt im Titel „Shades“ auch die Sehnsucht
       nach dem Schatten an, den viele nach einem weiteren Jahrhundertsommer
       benötigen.
       
       So wird aus dem Persönlichen sogar noch etwas Politisches: „In ‚Shades‘
       ging es eigentlich darum, sich mit Dingen abzufinden, auch wenn man nicht
       wirklich überzeugt ist“, erklärt Keyboarderin und Texterin Raisa Khan.
       „Darum, die Welt um sich herum zu verbessern. Und dann ist irgendwie ein
       Song über den Klimawandel daraus geworden. Das macht Sinn, denn da tun wir
       nicht genug.“
       
       ## Saxofon in der Küche
       
       Auch im Auftaktsong des Albums vermengen sich zunächst Levis schlingernde
       Gitarre und einige helle Tupfer, die aus einer Blockflöte stammen.
       Calderwood spielt diese, wie das Saxofon, intuitiv. Noten lesen, anzählen –
       das machen die anderen. „Ich habe ein Saxofon geerbt und dann damit
       angefangen, Musik zu machen. Mittlerweile spiele ich auch andere
       Instrumente, aber ich hab mir diese selbst beigebracht.“ Calderwood war bei
       den Jams, in denen das Album entstanden ist, nicht anwesend, hat das
       Saxofon bei sich in der Küche aufgenommen. „Deswegen klingt es oft etwas
       grob und mürrisch, ich hatte kein besonders gutes Mikrofon“, erklärt
       Calderwood.
       
       An anderer Stelle erinnert das Saxofon an Punk und Post-Punk, spielt
       abgehackte Stakkatos auf treibendes Schlagzeug und Gitarren. „Pyro“ ist ein
       kleiner [4][Punk-Kracher] mit mehreren Tempowechseln und
       Call-and-Response-Gesang. „Universal“ beginnt mit einer grungigen
       E-Gitarre, die in Konversation mit dem Saxofon steht, bevor beide von Raisa
       Khans hellem Gesang kontrastiert werden. Die Texte muten dabei ähnlich
       assoziativ an wie die Jamsessions, in denen „Shades“ entstanden ist.
       
       Oft wiederholt Raisa Khan nur wenige Zeilen, Gedanken, die ihr im Alltag
       begegnet sind. In „Blessed“ heißt es etwa: „You know how hard I tried / But
       still I let you down / I’m always letting people down / If only they knew
       much I let myself down.“ Und dann beginnt das Ganze wieder von vorn. Ein
       Mantra der Selbstbefragung, das in zerschnipselten Sample-Fetzen zusätzlich
       einen verdrehten Background-Gesang bildet.
       
       Diese durch Improvisation entstandene Musik ist weder einfach noch sauber
       geputzt. Was sich früher spinnefeind war, vereinen Good Sad Happy Bad. Punk
       und klassische Musikausbildung gehen Hand in Hand, ebenso wie grantige
       Gitarren und heller Gesang oder beschwingte Melodien und schräge Saxofone.
       Auf „Shades“ umarmt die Londoner Band die Uneindeutigkeiten. Good Sad Happy
       Bad haben ein Album voller Gegensätze und Kontraste kreiert, mit dem sie
       großartige Unruhe schüren.
       
       Good Sad Happy Bad: „Shades“ (Textile Records/A-Musik/Cargo)
       
       12 Nov 2020
       
       ## LINKS
       
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