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       # taz.de -- Erinnerungskultur in Berlin: Hertie erinnert sich zu spät
       
       > Studierende der Hertie School fordern Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit
       > der ehemaligen Kaufhauskette Hermann Tietz. Der Konzern wurde „arisiert“.
       
   IMG Bild: Hertie Betriebsfeier 1938 in der Deutschlandhalle
       
       1943 wurde Kurt Seelig mit seiner Familie nach Auschwitz deportiert und
       ermordet. Ein Stolperstein erinnert heute in der Schivelbeiner Straße in
       Pankow an ihn. Seelig arbeitete für die Warenhauskette Hermann Tietz. Im
       Zuge der „Arisierung“ des Unternehmens verlor er seine Arbeit.
       
       Die Warenhauskette Hermann Tietz ist heute kaum bekannt, der Name Hertie
       hingegen schon. Doch Hertie steht für: Hermann Tietz. 1882 gab der
       deutsch-jüdische Kaufmann seinem Neffen Oscar das Startkapital für die
       Gründung eines Textilgeschäfts in Gera. Dieser benannte die expandierende
       Firma nach seinem Onkel, Hermann Tietz OHG. Seine Nachkommen machten daraus
       bis 1928 einen der weltweit größten Warenhauskonzerne.
       
       Zu Beginn der 1930er Jahre brachten die Wirtschaftskrise, vor allem aber
       wachsender Antisemitismus und Repressalien den Konzern in finanzielle
       Schwierigkeiten. 1933 verweigerte ein Bankenkonsortium auf Druck der Nazis
       einen bereits zugesagten Kredit. Der Konzern wurde unter Bankenaufsicht
       gestellt, die jüdischen Besitzer hinausgedrängt. Der nun „arisierte“
       Konzern erhielt einen neuen, nichtjüdischen Namen: Hertie.
       
       Den Kaufhauskonzern gibt es nicht mehr, wohl aber die gemeinnützige
       Hertie-Stiftung in Frankfurt/Main, mit einem Vermögen von knapp einer
       Milliarde Euro eine der größten in Deutschland. Die Stiftung finanziert die
       Hertie School of Governance in der Friedrichstraße in Mitte, an der
       Menschen aus aller Welt zu Führungskräften ausgebildet werden.
       
       ## Nichts erinnerte an die Vorgeschichte
       
       So wie Laura Franken. „Ich habe zwei Jahre an der Hertie School studiert,
       aber die Verbindung zu den Hermann-Tietz-Warenhäusern war mir nicht
       bewusst“, erzählt sie. Auch ihr früherer Kommilitone Alexander Busold
       wundert sich, dass an der Hochschule nichts an die Vorgeschichte von Hertie
       erinnerte: „Das war die Motivation zu sagen: Da müssen wir jetzt was tun.“
       
       Im März 2019 schreibt er im Namen mehrerer Studierender und Alumni an die
       Hertie-Stiftung: „Es ist ethisch geboten, dass der Verdrängung der Familie
       Tietz aus ihrem Unternehmen nicht auch noch die Verdrängung der Familie
       Tietz aus der Geschichtsschreibung folgt.“
       
       Die Stiftung zeigt sich gesprächsbereit, reagiert aber zurückhaltend. Es
       stellt sich heraus, dass bereits zwei Vorstudien zur Unternehmensgeschichte
       aus den Jahren 2000 und 2008 existieren, die aber unter Verschluss gehalten
       werden; die Quellenlage reiche nicht aus.
       
       ## Text ohne Zeitangabe
       
       Immerhin erscheint nun erstmals ein Text zur Unternehmensgeschichte auf der
       Homepage der Stiftung, der allerdings schwer zu finden ist. „Die
       Gemeinnützige Hertie-Stiftung (…) ist verbunden mit einer Geschichte (...)
       von den bescheidenen Anfängen (...), über die goldene Zeit der
       Kaufhauspaläste, die Weltwirtschaftskrise, den Wiederaufbau nach dem
       Zweiten Weltkrieg und das Wirtschaftswunder, bis hin zur Krise der
       Warenhäuser Anfang der siebziger Jahre.“ Die NS-Zeit fehlt in der
       Einleitung.
       
       Danach wird die „Arisierung“ des Unternehmens in der NS-Zeit erläutert;
       dennoch bleibt in dem Text vieles im Dunkeln („die Banken berufen Georg
       Karg (....) als Geschäftsführer“). Insgesamt entsteht der Eindruck, dass
       die Familie Tietz ihr Unternehmen hauptsächlich aufgrund der schlechten
       wirtschaftlichen Verfassung verlassen musste.
       
       Fakt ist: Die jüdischen Besitzer wurden gegen eine Abfindung aus dem
       Konzern gedrängt, die jüdischen Angestellten wie Kurt Seelig entlassen.
       Georg Karg, zuvor Verkaufsleiter bei den Tietz-Warenhäusern, sanierte nun
       als Geschäftsführer den Konzern und wurde zum alleinigen Besitzer des
       Warenhaus-Imperiums Hertie. Nach dem Krieg entschädigte er die mittlerweile
       in den USA lebenden Tietz-Nachkommen in einem Vergleich. Doch auch seine
       Rolle bei der Übernahme ist nicht geklärt. Alles Gründe, die für eine neue
       Studie sprechen würden.
       
       Die Hertie-Stiftung hält dies zunächst nicht für nötig.
       Vorstandsvorsitzender Frank-Jürgen Weise (ehemaligs Vorsitzender der
       Bundesagentur für Arbeit) schreibt Anfang Juli 2019 an Busold, alle
       Studierenden und Alumni der Hertie School, dass „eine wissenschaftliche
       Aufarbeitung der Geschichte des Hertie-Konzerns kurz vor und während der
       nationalsozialistischen Herrschaft (...) keine weitere Aufklärung bringen
       würde“.
       
       ## Gerüchte über Tradition des Schweigens
       
       Aus dem Firmenimperium von Georg Karg ging die Hertie-Stiftung hervor. Im
       Vorstand sitzt heute seine Enkelin, Sabine Gräfin von Norman. Es gibt
       Gerüchte von einer Tradition des Schweigens in der Familie. Doch das will
       John-Philip Hammersen, Geschäftsführer der Stiftung, so nicht stehen
       lassen: „Sicherlich ist es ein Thema gewesen, dass eine Aufarbeitung in der
       Familie lange Zeit durchaus begründet nicht priorisiert worden ist“,
       formuliert er.
       
       Busold hat inzwischen mit Franken und weiteren Mitstreiter*innen die
       Her.Tietz-Initiative gegründet, die sich für einen transparenten Umgang mit
       der „Arisierung“ der Hermann Tietz Kaufhäuser einsetzt. Die Initiative
       fordert die Veröffentlichung der Vorstudien und eine neue, unabhängige
       Studie unter Einbeziehung der Holocaust-Forschung. Zudem schlägt sie
       Erinnerungstafeln und Veranstaltungen vor.
       
       Im März 2020 beschließt die Stiftung nun doch, eine Aufarbeitung der
       Hertie-Geschichte in Auftrag zu geben. Der Sinneswandel habe auch mit dem
       Druck der Initiative zu tun, gibt Hammersen zu. Ein weiterer Grund: durch
       die Digitalisierung neu entstandene Möglichkeiten zur Quellenrecherche. Die
       gab es 2019 aber auch schon.
       
       Die Her.Tietz-Initiative schlägt Wissenschaftler*innen vor, die an einer
       Studie beteiligt werden könnten, doch monatelang gibt es keine greifbaren
       Ergebnisse. Daher beschließt die Initiative, an die Öffentlichkeit zu
       gehen. Am 9. Oktober, dem Jahrestag des Halle-Attentats, organisiert sie
       eine Livediskussion zu Antisemitismus. „Wir haben sie Tietz Lecture
       genannt, als ehrendes Gedenken an die Familie Tietz, und wollten die Brücke
       zu Themen schlagen, die heute wieder aktuell sind“, sagt Busold.
       
       ## Nun sind zwei Studien geplant
       
       In der Hertie School gibt es nun eine Infotafel. Zusätzlich hat die
       Initiative eine Petition gestartet: Die Hertie-Stiftung solle
       sicherstellen, dass die neue Studie transparent und unabhängig ist und der
       Forschungsschwerpunkt nicht nur auf der Unternehmensgeschichte, sondern auf
       „Arisierung“ und Holocaust-Forschung liegt.
       
       Nun kommt Bewegung in die Angelegenheit. Nachdem die Süddeutsche Zeitung
       berichtet, die Hertie-Stiftung würde sich weigern, ihr geschichtliches Erbe
       öffentlich aufzuarbeiten, veröffentlicht diese eine Mitteilung.
       „Selbstverständlich stellt sich die Hertie-Stiftung der Vergangenheit“,
       verkündet Vorstandsvorsitzender Weise nun, bis zum Jahresende wolle er eine
       neue Studie in Auftrag geben. Das steht inzwischen auch auf der Homepage.
       „Diese Vorgeschichte soll aufgearbeitet werden“, sekundiert Hammersen, „und
       zwar wissenschaftlich unabhängig und in einer geeigneten Form, dass das
       Ergebnis nicht angezweifelt werden kann.“
       
       Nun werde es wahrscheinlich zwei Studien geben, von denen „die zweite
       Studie ganz gezielt das Thema Arisierung bis in die Tiefe ausleuchtet.“
       Allerdings wolle man sich nicht vorschreiben lassen, wie die Aufarbeitung
       stattzufinden habe. Voraussichtlich werde man wieder die Gesellschaft für
       Unternehmensgeschichte beauftragen, die bereits vor 20 Jahren die
       unveröffentlichte Vorstudie erstellt hat.
       
       „Dass eine neue Studie erstellt werden soll, finden wir natürlich super“,
       so Busold. „Darüber hinaus könnten sie eine Veranstaltung dazu machen. Man
       könnte die Bibliothek in Tietz Memorial Library umbenennen. Es gibt es
       Vieles, was man jetzt schon sofort machen könnte.“
       
       Busold ist heute Programmmanager bei einer Stiftung, Franken arbeitet in
       der Privatwirtschaft. Doch beide wollen in ihrer Initiative aktiv bleiben.
       „Wir sehen sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart, dass
       antisemitische Attacken einerseits aus Hass und aus Hassreden entstehen,
       aber gleichzeitig eben auch aus einer gesellschaftlichen Gleichgültigkeit
       gegenüber solchen Phänomenen“, sagt Franken. „Es ist einfach Teil der
       Verantwortung jeder Institution und jedes Individuums, sich gerade in
       Deutschland mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen.“
       
       12 Nov 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Darius Ossami
       
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