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       # taz.de -- Masern nach Impfskepsis: Erinnerung an die Scham
       
       > Impfen, ja oder nein? Diese Frage stellte sich in der DDR nicht. Nach der
       > Wende schien es dann plötzlich rebellisch, das Impfen zu verweigern.
       
   IMG Bild: München im April 2020, es gibt noch keinen Impfstoff, trotzdem wird vor „Impfterrorismus“ gewarnt
       
       Es gab gute und schlechte Impftage in der DDR. Gute waren die, an denen
       unsere ganze Klasse im Gänsemarsch zur Schulschwester aufbrach, um sich –
       Löffel für Löffel – die schlabbrig-süße Schluckimpfung abzuholen.
       Schlechte, wenn wir einzeln antanzen mussten, um uns eine Spritze gegen
       dieses und jenes reinjagen zu lassen.
       
       Dieses mamalose Rumgepikse fand ich schlimm. Mal vergaß ich deshalb
       planvoll meinen Impfausweis zu Hause, wurde dann aber trotzdem geimpft und
       bekam ein Attest in die Hand gedrückt. Dann wieder versuchte ich der
       Spritze zu entrinnen, indem ich leichte Halsschmerzen vortäuschte. Meine
       Mutter, die schon ganz andere Sachen in ihrem Leben gesehen hatte, bat mich
       dann stets, den Mund zu öffnen und die Zunge herauszustrecken. Sie guckte
       fachfraulich in meinen Schlund, lächelte und klappte mit ihrem schmalen
       Zeigefinger und einem aufmunternden „Kerngesund!“ meinen Kiefer wieder zu.
       Ich heulte fast vor Wut.
       
       Insgesamt kann man sagen, dass [1][geimpft zu werden] im Osten
       unhinterfragt und unhinterfragbar gewesen ist. Es herrschte Impfpflicht.
       Die Frage, ob oder ob nicht, stellte sich also nicht. Mag sein, es gab da
       ein paar versprengte Impfrebellen zwischen Rostock und Suhl, die habe ich
       aber nie getroffen.
       
       Als ich 1988 ein gesundes Mädchen geboren hatte, wurde es großflächig
       durchgeimpft. Dass bald darauf Seuchenschutz durch die deutsche
       Wiedervereinigung plötzlich zur Privatsache geworden war, interessierte
       mich null. Ich hatte die Verantwortung für dieses wunderschöne kleine
       Mädchen – wer war ich, ihr die Segnungen der modernen Medizin
       vorzuenthalten.
       
       ## Qualvolle Tage
       
       Beim zweiten Kind sah die Sache dann schon anders aus. Mitte der Neunziger
       hatte ich bereits einen ziemlich tiefen Schluck aus der
       Selbstbestimmungspulle genommen. Das Kind wurde natürlich im Geburtshaus
       geboren, bio ernährt – und Impfungen galten plötzlich als eine Art
       [2][Spezialspleen von Leuten, die sich an gesellschaftliche Konventionen
       aus einer untergegangenen Diktatur hielten]. Diphtherie, Keuchhusten,
       Wundstarrkrampf – das waren Begriffe versunkener Zeiten.
       
       Leider war es dann aber so, dass dieses wunderschöne Mädchen mit anderthalb
       Jahren schwer an den Masern erkrankte, gegen die ich sie nicht hatte impfen
       lassen. Das waren qualvolle Tage für sie. Und ich flehte diesen Gott an, an
       den ich nicht glaubte, er möge alles bitte, bitte noch mal gutgehen lassen.
       Ich würde auch nie wieder einen Impftermin sausen lassen. Gott hat nicht
       geantwortet, aber das Mädchen hat die Sache knapp überlebt.
       
       Daran muss ich dieser Tage manchmal denken, wenn es um den
       Covid-19-Impfstoff geht. An die Angst damals und die Scham und das Wissen
       um den eigenen Leichtsinn. Ich denke an die Verantwortung für andere. Die
       Sache hätte meine wunderschöne Tochter ihr aufregendes Leben kosten können.
       Keine Pointe.
       
       25 Nov 2020
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Anja Maier
       
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