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       # taz.de -- Gewalt gegen Frauen: Laut werden auf dem Goetheplatz
       
       > Das Theater Bremen macht trotz ruhenden Betriebs auf den Tag gegen Gewalt
       > gegen Frauen aufmerksam: mit einer Soundinstallation im öffentlichen
       > Raum.
       
   IMG Bild: Zäher Gegner: Demo Ende 1997 in Madrid gegen häusliche Gewalt und Missbrauch
       
       Bremen taz | Mobbing, Stalking, Nötigung, psychische Erniedrigung,
       sexueller Übergriff, Körperverletzung, Freiheitsberaubung, Vergewaltigung
       bis hin zu Totschlag und Mord: Gewalt gegen Frauen ist allgegenwärtig, aber
       es wird weggeschaut; Opfer werden stigmatisiert und häufig hört man ihnen
       nicht zu. So beschreibt Theresa Schlesinger, Dramaturgin am Theater Bremen,
       die Motivation, den Spielplan durch feministische Ansätze mitzuprägen. Eine
       Motivation, die ihre Kolleginnen teilten, sagt Schlesinger.
       
       Eine Mitarbeiterinnen-Initiative will nun auch außerhalb der Bühnenräume
       Flagge zeigen und realisiert eine öffentliche Aktion zum Internationalen
       Tag gegen Gewalt gegen Frauen, begangen seit 1981 jeweils am 25. November,
       was die Vereinten Nationen 1999 auch offiziell aufgriffen.
       
       Die Aktion selbst wirkt dabei wie ein bescheidener Rekurs auf die – zum
       zweiten Mal – abgesagte Premiere von „Wüst oder die Marquise von O.... –
       Faster Pussycat! Kill! Kill!“: Schlesinger öffnete ihre dafür
       zusammengestellte Materialmappe, Vorstufen sowie Fußnoten der Inszenierung
       und ließ einige Texte von Schauspieler*innen einsprechen. Kolleg*innen der
       Opernsparte fügten Auszüge aus Händels Kantate „La Lucrezia“ bei: Darin
       nimmt sich eine vergewaltigte Frau das Leben.
       
       Die zusammengeschnitten Aufnahmen sollen sich nun als 20-minütiger Loop auf
       dem Goetheplatz vor dem Theater akustisch durchsetzen gegen Autoverkehr und
       Straßenbahnlärm: Von 10 bis 17.45 Uhr beschallen zwei Lautsprecher die
       Passant*innen. Flyer mit Hinweisen zum Anlass sowie Angaben zu den Quellen
       der Texte liegen aus, auch auf Angebote für hilfesuchende Frauen wird
       verwiesen. Gleichzeitig kapern die Theaterfrauen [1][die Website ihres
       Arbeitgebers] und platzieren dort die Audiospur plus ergänzende Beiträge.
       
       ## Gruppenbildung verboten!
       
       Mehr geht nicht: „Wegen der geltenden Corona-Verfügungen ist uns ja keine
       Live-Situation mit Spielenden erlaubt“, erklärt Schlesinger. Es gelte zu
       verhindern, dass Menschen stehen bleiben, Gruppen bilden, ins Gespräch
       kommen. Aber im Vorübergehen etwas zum Mitnehmen annehmen, das zumindest
       soll möglich sein.
       
       Sie verstehe die Aktion „nicht nur aufklärerisch informativ“, so
       Schlesinger, sondern „auch diskursiv als künstlerische Auseinandersetzung“.
       Mit [2][der Frauenbeauftragten] und fünf weiteren Kolleginnen bildet sie
       das Orga-Team. Kein Mann dabei, „nicht weil wir keinen dabei haben wollen“,
       sagt Schlesinger, aber die beteiligten Abteilungen – Presse, Marketing,
       Dramaturgie und interkulturelle Öffnung – seien „einfach sehr frauenlastig
       besetzt“.
       
       „Jede dritte Frau in Deutschland ist mindestens einmal in ihrem Leben von
       physischer und/oder sexualisierter Gewalt betroffen. Etwa jede vierte Frau
       wird mindestens einmal Opfer körperlicher oder sexueller Gewalt durch ihren
       aktuellen oder früheren Partner. Betroffen sind Frauen aller sozialen
       Schichten“: So steht es auf der [3][Website des Bundesministeriums für
       Familie, Senioren, Frauen und Jugend].
       
       Genau das ist der Einstiegstext der Audiodatei. Verwiesen werden kann dabei
       auf Bremer Zahlen über das, was Polizeimeldungen verharmlosend als
       Eifersuchtsdrama, Familienstreit oder Ehekrise bezeichnen. Laut der
       [4][Senatsantwort vom 10. November] auf eine FDP-Anfrage liegen die
       angezeigten Straftaten von häuslicher Männergewalt mit weiblichen Opfern
       seit Jahren zwischen 1.500 und 2.000. Angezeigte Straftaten gegen die
       „sexuelle Selbstbestimmung von Frauen“ steigen kontinuierlich, von 263 im
       Jahr 2015 auf 413 (2019). Wobei die #MeToo-Debatte die Bereitschaft,
       Anzeige zu erstatten, befördert haben könnte.
       
       Die Studie „Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in
       Deutschland“ des Bundesfamilienministeriums berichtet von einer
       Anzeigenquote von bestenfalls 16 Prozent, demnach werden also mindestens
       vier Fünftel der Gewalttaten an Frauen verschwiegen. Die Folgen lassen sich
       nicht verschweigen: Plätze in den Stadtbremer Frauenhäusern sind laut Senat
       dauerhaft mit 80 bis 100 Prozent ausgelastet; 122 Betten gebe es,
       zusätzlich 48 Schutzplätze für gewaltbetroffene, geflüchtete Frauen.
       
       Und wie sieht es hinter den Theaterkulissen aus? In einer 2019 vom Ensemble
       Netzwerk veröffentlichten [5][Umfrage unter knapp 2.000 Theaterschaffenden]
       zum strukturellen Machtmissbrauch an den deutschen Bühnen gab fast die
       Hälfte der befragten Frauen an, unter psychischem Missbrauch zu leiden; ein
       knappes Zehntel sei bereits von sexuellen Übergriffen betroffen gewesen –
       bis hin zu klassischen Deals: Hauptrolle gegen sexuelle Gefälligkeit.
       
       „Ich kann nicht sagen, ob das im Theater Bremen akut ist“, so Schlesinger.
       Ihr geht es um die Alltäglichkeit der Gewalt und ihrer Folgen. Mädchen
       würden schon im Wissen um ihre Verletzbarkeit erzogen: Sie lernten,
       jederzeit Vergewaltigungsopfer sein zu können, „ohne auch nur irgendetwas
       getan zu haben. Allein aufgrund ihres Geschlechts.“ Diese Angst mache
       mürbe, ebenso die Notwendigkeit, ständig Verteidigungsstrategien entwickeln
       oder nachts bestimmte Viertel und Orte meiden zu müssen.
       
       ## Den Opferstatus abstreifen
       
       Zumindest einen Tag lang soll am 25. November dieser Opferstatus
       abgestreift werden –und herausgetreten werden aus der Ohnmacht der
       Schamgefühle. So wie es die Marquise von O. in Kleists Novelle vormacht,
       die der aufgeschobenen Theaterproduktion zugrunde liegt: „Ein
       revolutionärer Akt“ sei es, sagt Schlesinger, wenn die Protagonistin ihre
       Vergewaltigung per Zeitungsanzeige öffentlich macht, um Kontakt zum Täter
       zu suchen. Wenn auch nicht, um ihn anzuklagen: Zu Beginn des 19.
       Jahrhunderts will sie den Vergewaltiger vielmehr heiraten, damit das Kind
       ein eheliches ist.
       
       So weit solle auch Elsa-Sophie Jachs Inszenierung dem Autor folgen – dann
       aber treffe die Protagonistin mit den drei Stripperinnen Varla, Rosie und
       Billie aus Russ Meyers Film „Faster, Pussycat! Kill! Kill!“ (1966)
       zusammen.
       
       Die sind ihrem Job und also den obszönen Zurufen lüsterner Männer
       entflohen, „tun und nehmen sich das, was man sich als Frau sonst nicht
       traut“, sagt Schlesinger: Als Fleisch gewordene Fantasien machen sie in der
       B-Movie-Vorlage den Macho-Spießern die Hölle heiß und haben mächtig Spaß
       daran, deren Fixierungen zu übernehmen. Sie interessieren sich also für
       Angeberautos und schnelles Fahren. Wenn ein Typ sie dabei behindert, wird
       ihm das Genick gebrochen, für Macht und Geld auch weiter gemordet. Ist
       diese aggressiv-feministische Gewaltumkehr als Utopie zu verstehen? Das
       wird die Premiere zeigen – nach derzeitigem Stand am 13. Dezember.
       
       „Ich will mich nicht über Diskriminierung definieren. Ich will zeigen, dass
       es Probleme gibt, die weg sollen“, heißt es in dem Hörstück auf dem
       Goetheplatz.
       
       Muss, wer Gewalt gegen Frauen verhindern will, nicht auch die Täter
       problematisieren? Nein, heißt es am Theater, an diesem Tag solle mal nicht
       über Männer und deren Sicht der Dinge gesprochen werden, sondern über die
       eigenen. Wie die O.: „Sie reißt das Zepter der Erzählung an sich – der
       Erzählung ihrer Vergewaltigung, ihres Rachezugs, ihres Weges zu
       Wiederherstellung ihrer Ehre“, hat Schlesinger auf der Theaterwebsite
       notiert.
       
       Dieses Empowerment ist ihr wichtig. Wer über den Goetheplatz bummelt, soll
       Mut mitnehmen, bei Gewalt nicht wegzugucken, sondern die Polizei zu rufen.
       Und etwa die eingespielten Texte von [6][Virginie Despentes] als Manifest
       verstehen: laut sein, neu denken und sich verbünden.
       
       25 Nov 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://www.theaterbremen.de
   DIR [2] https://www.theaterbremen.de/de_DE/ensemble/marianne-seidler.103379
   DIR [3] https://www.bmfsfj.de/
   DIR [4] http://www.bremische-buergerschaft.de/dokumente/wp20/land/drucksache/D20L0700.pdf
   DIR [5] https://link.springer.com/book/10.1007/978-3-658-26451-2
   DIR [6] /Virginie-Despentes/!t5451497
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jens Fischer
       
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