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       # taz.de -- Schulbetrieb in der Coronapandemie: Streit ums Homeschooling
       
       > Am Mittwoch beraten Bund und Länder auch über schärfere Maßnahmen an
       > Schulen. Was halten Schüler:innen, Lehrer:innen und Eltern von den
       > Plänen?
       
       Berlin taz | Unterricht in Zeiten von Corona? Nico Wirtz hätte da einen
       Vorschlag: Ganze Klassen tageweise digital unterrichten. Darauf sei seine
       Schule gut vorbereitet. Der 48-jährige Lehrer unterrichtet Sprachen am
       Berliner John-Lennon-Gymnasium. Seit Jahren arbeiten Schüler:innen und
       Lehrer:innen der Schule mit einer digitalen Lernplattform. Die Zeit der
       ersten Schulschließungen habe man deshalb gut überstanden, sagt Wirtz.
       
       Auch jetzt würde die Schule gern ihre digitalen Stärken ausspielen –
       [1][doch sie darf nicht]. „Der Berliner Senat hat unseren Antrag, die
       Oberstufen tageweise in den Fernunterricht zu schicken, abgelehnt.“ Die
       Begründung: Findet der Unterricht nicht in einem bestimmten Umfang an der
       Schule statt, könnten Schüler:innen oder Eltern gegen Prüfungsleistungen
       klagen.
       
       Auch andere Schulen in Berlin haben erfolglos eine Genehmigung dafür
       beantragt, Schüler:innen klassenweise nach Hause zu schicken. Die
       Bildungsgewerkschaft GEW kritisiert, die Schulen würden auf Gedeih und
       Verderb offen gehalten. „Diesen Eindruck kann man gewinnen“, stimmt Wirtz
       zu. Im Kollegium herrsche deshalb Frust.
       
       Das John-Lennon-Gymnasium liegt im Bezirk Mitte, mit 288 Neuinfektionen pro
       100.000 Einwohner:innen ein Hotspot im Hotspot Berlin. Der Unterricht an
       der Schule läuft bislang dennoch weitestgehend wie vor Corona, die
       Schüler:innen kommen und gehen nach Stundenplan.
       
       Länder: Offene Schulen haben „höchste Bedeutung“ 
       
       In einem Hotspot liegt auch die Stadtteilschule Hamburg-Blankenese. 105
       Neuinfizierte pro 100.000 Einwohner:innen meldete das Robert-Koch-Institut
       für Hamburg in der vergangenen Woche im Schnitt. Doppelt so viele wie die
       von Bund und Ländern ausgegebene Zielmarke von 50.
       
       Unterricht in Schichten? Sei derzeit nicht angesagt, meint Mathias
       Morgenroth-Marwedel, der Leiter der Schule. An dieser habe es seit März
       gerade mal zwei Fälle von Corona gegeben, und das unter allen 1.150
       Schüler:innen. Das bestätige die Annahme, dass Schulen an sich kein Hotspot
       seien – selbst wenn sie in einem liegen.
       
       Schulen offen halten oder teilweise schließen? Das Thema wird nicht nur in
       Lehrerzimmern, sondern quer durch die Gesellschaft heiß diskutiert. Für
       die Bildungspolitiker:innen der Länder und die
       Ministerpräsident:innen steht fest: Schulen und Kitas müssen
       unbedingt offen bleiben. Das habe „höchste Bedeutung“, heißt es in dem
       Vorschlagspapier, mit dem die Ministerpräsident:innen am Mittwoch in die
       Gespräche mit Bundeskanzlerin Angela Merkel gehen.
       
       Ein Mix aus digitalem und Präsenzunterricht, sogenannter Hybridunterricht,
       wie er dem Berliner Lehrer Wirtz vorschwebt, wird in dem Vorschlag nur als
       eine von mehreren möglichen Maßnahmen in besonderen Infektionshotspots
       genannt. Was einen „besonderen“ Hotspot ausmacht, ist nicht weiter
       ausgeführt.
       
       Kanzleramt will Wechselunterricht 
       
       Die Mehrheit der Kultusminister sei gegen eine feste Definition gewesen,
       erläutert Thüringens Bildungsminister Helmut Holter, Linke. Und damit auch
       gegen gegen automatische Teilschließungen von Schulen, die dann greifen
       würden. Die Kultusministerkonferenz hatte sich bereits vergangene Woche auf
       eine gemeinsame Position geeinigt, die in wesentlichen Punkten in den
       Vorschlag der Länder eingeflossen ist. Auch Holter ist gegen einen
       Automatismus. „Offene Schulen und Kitas sind der Beitrag dafür, dass die
       anderen Einschränkungsmaßnahmen akzeptiert werden“, glaubt der Politiker.
       
       Im Kanzleramt ist man da [2][anderer Ansicht]. Merkel und ihr Stab hatten
       vor zehn Tagen vorgeschlagen, Schulklassen ab einem Wert von 50
       Neuinfektionen auf 100.000 Einwohner:innen zu halbieren. In der Praxis
       hätte das bedeutet, dass die Schulen fast flächendeckend auf
       Wechselunterricht hätten umstellen müssen. Die Länder lehnten das strikt
       ab. Sie wollen weiterhin selbst entscheiden, wann Schulen geschlossen
       werden. Die Folge: Fast überall sind die Schulen geöffnet und überall
       gelten andere Maßstäbe.
       
       „Zurzeit kann man nicht wirklich nachvollziehen, warum eine Schule offen
       bleibt, obwohl die Hälfte des Lehrerkollegiums infiziert ist“, kritisiert
       Leon Schwalbe von der Landesschülervertretung Thüringen. Es fehle an
       Transparenz und klarer Kommunikation darüber, welche Instanz nach welchen
       Kriterien entscheide, so der Elftklässer aus Saalfeld. Trotz der hohen
       Fallzahlen wie bisher weiter zu unterrichten, findet Schwalbe
       unverantwortlich – und macht sich deshalb für hybride Unterrichtsmodelle
       stark.
       
       Auch David Jung, Vorsitzender der Schülervertreter:innen in
       Baden-Württemberg, plädiert dafür, baldmöglichst in den Wechselunterricht
       überzugehen. „Jetzt haben wir noch die Chance, das rollierende System
       kontrolliert einzuführen – sonst besteht die Gefahr, dass wir wie zu Beginn
       der Pandemie überhastet in den Onlineunterricht stürzen“, befürchtet der
       Schüler der 13. Klasse. „Bildungslücken entstehen vor allem durch die
       chaotischen Wechsel zwischen Online- und Präsenzunterricht.“
       
       Infektionsschutz versus Bildungsgerechtigkeit? 
       
       Die sächsische Landesschülersprecherin Joanna Kesicka spricht sich
       ebenfalls für Schulunterricht im Wechselmodell aus, wenn das
       Infektionsgeschehen sich in den nächsten 14 Tagen nicht spürbar abschwächt.
       In vielen alten Schulgebäuden sei es gar nicht möglich, Abstände
       einzuhalten, die Gesundheitsämter wirkten überfordert und das Vorgehen sei
       nicht wirklich einheitlich. „Der Teillockdown hat die Infektionslage nicht
       entspannt – genau das wäre aber nötig, um weiter sinnvoll Präsenzunterricht
       machen zu können“, sagt die Schülerin aus Löbau.
       
       Nicht alle sehen den Wechselunterricht als Chance. Um Bildungsgerechtigkeit
       zu ermöglichen, müssten Schulen so lange wie möglich offen bleiben, fordert
       die Initiative „Familien in der Krise“. Auch bei hohen regionalen oder
       lokalen Wocheninzidenzen sollen vollumfänglicher Präsenzunterricht und
       Nachmittagsbetreuung für die Kinder und Jugendlichen aller Altersstufen
       weiterbestehen, schreiben sie in einer Petition.
       
       Unterstützung erhalten sie von Kinder- und Jugendmediziner:innen. Deren
       Fachgesellschaften veröffentlichten am 20. November ein Plädoyer „Lasst die
       Schulen offen!“. Die Schließungen während der ersten Welle hätten zu
       Bildungsdefiziten und Entwicklungsbeeinträchtigung insbesondere auch bei
       Kindern mit besonderem Förderbedarf geführt, heißt es darin.
       
       Der Berliner Lehrer Wirtz glaubt dagegen, dass digitaler Unterricht sich
       nicht zwangläufig nachteilig auswirken muss. Ganze Jahrgänge tageweise
       digital zu unterrichten, könne schon viel von dem momentanen Druck
       rausnehmen: An der Schule wäre es nicht so voll – der Unterricht würde
       dennoch nicht leiden.
       
       Mehr Luft im System notwendig 
       
       Auch der Blankeneser Schulleiter Morgenroth-Marwedel lehnt ein
       Wechselmodell nicht grundsätzlich ab. „Wir fühlen uns gut gerüstet, auch
       nach den Erfahrungen im März.“ Damals, während des ersten Lockdowns, hatte
       die Schule eine Notbetreuung für Schüler:innen angeboten, die drohten im
       Homeschooling abgehängt zu werden. 20 bis 40 Schüler:innen hätten dieses
       Angebot täglich genutzt.
       
       Auch jetzt könne man sich vorstellen, geteilte Klassen wochenweise im
       Wechsel zu unterrichten. „Wir haben entsprechende Lernkonzepte entwickelt
       und sind auch digital so weit vorbereitet“, sagt Morgenroth-Marwedel. Der
       Sprecher für die Hamburger Stadtteilschulen hört von den Kolleg:innen
       Ähnliches.
       
       Allerdings sei der hybride Unterricht mit enormen Mehrbelastungen verbunden
       – für alle. „Wir erwarten da entlastende Signale von der Politik.“
       Bildungspläne müssten entschlackt, die Zahl der Klassenarbeiten reduziert
       werden, wie auch die Pflichtstunden für die Lehrer:innen. „Wir brauchen
       Luft im System“, sagt der Schulleiter. „Ein stures ‚Schule bleibt so, wie
       sie ist‘ hilft uns nicht weiter.“
       
       Weniger Leistungsdruck wünscht sich die auch die Zwölftklässlerin Kesicka
       aus Sachsen. Trotz der vielen Unsicherheiten würden momentan
       Klassenarbeiten und Abschlussprüfungen weiterhin geschrieben. „In dieser
       Situation müssen die Lehrer*innen den Auftrag zum Onlineunterricht ernst
       nehmen und für uns erreichbar sein, gerade wenn wir in Wechselmodelle
       gehen“, fordert Kesicka. „Und wenn es nicht möglich ist, den gesamten Stoff
       zu vermitteln, weil wir zu Hause sind, müssen wir eben über
       Nachteilsausgleiche nachdenken.“
       
       Spürbare Mehrbelastung 
       
       Die Lehrpläne zu entrümpeln hatte auch eine Expert:innenkommission der
       Friedrich-Ebert-Stifung geraten, die im Mai Vorschläge dafür vorgelegt
       hatte, wie das [3][Schuljahr unter Coronabedingungen] zu organisieren sei.
       Die Bildungspolitiker:innen wollen davon aber nach wie vor nichts
       wissen. „An dem Punkt sind wir noch nicht“, meint Kultusminister Holter.
       Doch in Thüringen gibt es jetzt eine Arbeitsgruppe zum Thema Prüfungen.
       
       „Wir bereiten uns darauf vor, dass Prüfungen möglicherweise wie im Vorjahr
       verschoben oder erleichtert werden, damit niemand Nachteile hat, falls
       Unterricht in Größenordnungen wegfällt.“ Schon jetzt sei die Mehrbelastung
       spürbar, meint Holter. Die Lehrkräfte müssten nicht nur Unterricht geben,
       sondern auch Hygienemaßnahmen umsetzen. Fest stehe jedenfalls: „Das ist
       schon jetzt kein normales Schuljahr.“
       
       25 Nov 2020
       
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