URI: 
       # taz.de -- Farc-Guerilla in Kolumbien: Kommission sucht nach der Wahrheit
       
       > 50 Jahre lang bekämpften sich Farc-Guerilla und der kolumbianische Staat.
       > Eine internationale Kommission will jetzt Leid aufarbeiten – auch in
       > Deutschland.
       
   IMG Bild: Organisatorinnen aus verschiedenen Ländern erarbeiten Konzepte für die Wahrheitskommission
       
       Bogotá taz | Claudia Tribín hatte gewusst, dass die Familie ihrer Bekannten
       Probleme hatte. In ihrer Finca auf dem Land wurden sie bedroht. „Das war ja
       das Übliche.“ Irgendwann verließ die Familie Kolumbien. Was genau passiert
       ist, hatte Tribín sie nie gefragt. Bis jetzt.
       
       „Ich bin kein Opfer, mir ist ja nichts passiert“, habe die Bekannte damals
       gesagt. Erst später schrieb die Frau ihre Geschichte auf, zehn Seiten lang,
       als Zeugnis für die kolumbianische Wahrheitskommission. Erst mit über 50
       Jahren habe sie verstanden, dass das, was ihr geschehen war, tatsächlich
       ihr Leben verändert und all ihre Pläne über den Haufen geworfen hatte.
       
       So berichtet es Claudia Tribín. Die Kolumbianerin lebt seit 26 Jahren in
       Deutschland und ist eine von sechs speziell geschulten Freiwilligen im
       Land, die für die kolumbianische Wahrheitskommission Interviews mit
       Landsleuten führen – und sich dabei auch mit ihrer eigenen Geschichte
       auseinandersetzt. Auch Tribín verließ damals Kolumbien, weil sie bedroht
       wurde. Jetzt will sie dazu beitragen, dass die Muster der Gewalt erkannt
       werden, damit sie sich nicht mehr wiederholen.
       
       2016 schlossen der kolumbianische Staat unter Präsident Juan Manuel Santos
       und [1][die Farc-Guerilla] nach mehr als 50 Jahren bewaffnetem Konflikt
       einen [2][historischen Friedensvertrag], der international als vorbildlich
       gilt. Die Wahrheitskommission ist Teil des darin festgelegten Integralen
       Systems für Wahrheit, Gerechtigkeit, Wiedergutmachung und Garantien der
       Nichtwiederholung (SIVJRNR). Weitere Kernelemente sind die Instanz zur
       Suche nach gewaltsam Verschwundenen und die Sondergerichtsbarkeit für den
       Frieden.
       
       ## 1.027 Exil-Kolumbianer*innen haben gesprochen
       
       Wahrheitskommissionen hat es bereits in anderen Friedensprozessen gegeben,
       um zu dokumentierten, was in einem Krieg passierte. Doch die kolumbianische
       ist die erste weltweit, die auch Zeugnisse im Ausland sammelt. Laut der
       Flüchtlingsorganisation der Vereinten Nationen (UNHCR) flohen seit 1999
       wegen des bewaffneten Konflikts immer mehr Menschen aus Kolumbien. Der
       Höhepunkt war 2007, als insgesamt fast 552.000 Kolumbianer*innen ihre
       Heimat verlassen mussten.
       
       In 23 Ländern haben bislang 1.027 Exil-Kolumbianer*innen Zeugnisse abgelegt
       von dem, was ihnen in ihrer Heimat widerfahren ist. In Deutschland waren es
       etwa 70 Personen. „Für uns ist das ein großer Erfolg“, sagt Juana Corral,
       die von Berlin aus den „deutschen Knotenpunkt“ der Wahrheitskommission mit
       seinem insgesamt rund 30 Personen umfassenden ehrenamtlichen Team leitet.
       Denn bis zum Jahresbeginn hatte das Team kaum Geld, nicht einmal eine
       Webseite. Die Finanzierung der ganzen Wahrheitskommission wackelte.
       
       Praktisch in letzter Minute ist Deutschland eingesprungen. Das Auswärtige
       Amt unterstützt die Arbeit über das Deutsch-Kolumbianische Friedensinstitut
       Capaz in Bogotá mit rund 118.000 Euro, sagt Capaz-Direktor Stefan Peters.
       
       Das Institut half der Wahrheitskommission in Kolumbien schon zuvor, vor
       allem wissenschaftlich. Von dem zusätzlichen Geld bekommen die
       Ehrenamtlichen in Deutschland jetzt unter anderem eine kleine
       Aufwandsentschädigung, wird Fachpersonal für die psychosoziale Betreuung
       der traumatisierten Menschen bezahlt und werden Veranstaltungen zur
       kollektiven Reparation durchgeführt.
       
       Denn bevor Menschen sich entscheiden, Zeugnis abzulegen, müssen sie
       Vertrauen fassen. Viele sprechen zum ersten Mal über ihre Erfahrungen, sagt
       Juana Corral. Deshalb haben sie und ihr Team zunächst versucht, ihre
       Landsleute in Veranstaltungen für das Thema zu sensibilisieren – und beim
       gemeinsamen Nähen, Theaterspielen und kreativen Schreiben Räume zu
       schaffen, in denen sich die Besucher*innen austauschen konnten.
       
       ## Viele misstrauen der Regierung
       
       „Die Funktion war, dass die Leute kommen, miteinander reden“, sagt Corral.
       „Danach haben wir ihnen erklärt, wie der Prozess funktioniert.“ Wichtig sei
       den Menschen gewesen, wer Zugang zu ihren Aussagen bekomme. Denn die
       Wahrheitskommission ist zwar eine öffentliche Einrichtung, agiert aber
       unabhängig von der Regierung, der viele Kolumbianer*innen misstrauen, die
       fliehen mussten. [3][Präsident Iván Duque] ist ein erklärter Gegner des
       Friedensabkommens.
       
       „Ein paar haben sich dann entschieden, Zeugnis abzulegen, andere nicht. In
       jedem Fall war es ein Ort, an dem die Leute reden konnten und sich frei
       fühlten“, sagt Corral. Zumindest, [4][bis ihnen die Coronapandemie]
       zeitweise einen Strich durch die Rechnung machte. Die Stimmen, die das Team
       bis Ende Oktober sammeln konnte, kommen in den Abschlussbericht der
       Wahrheitskommission. Doch auch wer später Zeugnis ablegen will, werde
       gehört.
       
       Das Sammeln der Stimmen sei aber nur ein erster Schritt, sagt Stefan Peters
       vom Deutsch-Kolumbianischen Friedensinstitut Capaz. Der zweite ist der
       Bericht der Wahrheitskommission, der im November 2021 erscheinen soll –
       also mitten im hoch polarisierten Wahlkampf. „Damit ist zumindest
       sichergestellt, dass der Bericht nicht wie in anderen Ländern in der
       Schublade verstaubt“, sagt Peters. „Ich bin sicher, dass er in Kolumbien
       diskutiert wird.“
       
       Zwar bestehe die Gefahr, dass diese Form der Diskussion nicht konstruktiv
       sein werde und sich nicht genügend um die Fakten gekümmert werde. „Doch
       dieser Diskussionsprozess wird auch eine Chance für Kolumbien sein“, ist
       sich Peters sicher.
       
       Die Diskussion soll bereits am 13. November angestoßen werden. Dann stehen
       die Opfer des Konflikts, die in alle Welt zerstreut sind, im Zentrum einer
       [5][internationalen Veranstaltung der Wahrheitskommission]. Die Teams aus
       23 Ländern sollen per Video zu dem feierlichen Akt in der Movistar-Arena in
       Bogotá zugeschaltet werden. Der deutsche Ableger der Kommission
       [6][informiert am 14. November].
       
       13 Nov 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Friedensabkommen-in-Kolumbien/!5520321
   DIR [2] /Gewalt-gegen-Unis-in-Kolumbien/!5674733
   DIR [3] /Skandal-um-Stimmenkauf-in-Kolumbien/!5672044
   DIR [4] /Corona-in-Kolumbiens-Armenvierteln/!5684928
   DIR [5] https://comisionverdadcol-eu.org/de/evento/comision-de-la-verdad-reconoce-a-las-voces-del-exilio-colombiano/
   DIR [6] https://comisionverdadcol-eu.org/de/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Katharina Wojczenko
       
       ## TAGS
       
   DIR Kolumbien
   DIR Schwerpunkt Flucht
   DIR Farc
   DIR Friedensabkommen
   DIR Kolumbien
   DIR Kolumbien
   DIR Lateinamerika
   DIR Kolumbien
   DIR Kolumbien
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Kolumbianischer Drogenboss sagt aus: Wenn Wissen zur Gefahr wird
       
       Drei Monate nach seiner Verhaftung sagt Kolumbiens wichtigster Drogenboss
       endlich aus. Dann werden die Mitschnitte gestohlen.
       
   DIR Ehemalige Guerillagruppe in Kolumbien: Ranghohe Farc-Mitglieder angeklagt
       
       Acht Angeklagten werden Kriegsverbrechen vorgeworfen. Sie sollen für die
       Entführung von mehr als 21.000 Menschen verantwortlich sein.
       
   DIR Autor Pedro Badrán im Gespräch: „Überall lockt die Korruption“
       
       Der kolumbianische Schriftsteller Pedro Badrán über die Coronakrise, den
       stockenden Friedensprozess und die aktuelle Literatur Lateinamerikas
       
   DIR Ex-Guerilleros in Kolumbien: Flucht statt Frieden
       
       Ehemalige Kämpfer*innen der Farc-Guerilla fliehen aus ihrer Siedlung in der
       Region Ituango. Es sei eine Zwangsvertreibung, sagen sie.
       
   DIR Gewalt gegen Unis in Kolumbien: Auf der Abschussliste
       
       Die Uni-Dozentin Sara Fernández überlebt nur knapp ein nächtliches
       Attentat. Weil sie den Friedensvertrag mit den Farc begrüßt, hat sie viele
       Feinde.