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       # taz.de -- Proteste in Belarus: Angst vor der Säuberung
       
       > Früh haben sich Sportler gegen Machthaber Lukaschenko postitioniert. Doch
       > viele Athleten schweigen. Zu groß sind die Abhängigkeiten vom Staat.
       
   IMG Bild: Sportikone und Gesicht des Widerstands: Basketballerin Alena Leutschanka
       
       MINSK taz | Als am vergangenen Sonntag um die Mittagszeit [1][Alexander
       Lukaschenkos Prügeltruppen] alle Hände voll zu tun hatten, um den
       sonntäglichen Demonstrationszug zu verhindern und dabei auch Passanten aus
       Bushaltestellen, Geschäften und Autos zerrten, erwischte es um die
       Mittagszeit Andrej Krautschanka und Iwan Ganin. Beide hatten in einem Auto
       gesessen und sich unterhalten, als die Sicherheitsbeamten zuschlugen und
       eine, so berichtete es Krautschankas Ehefrau, die ehemalige
       Siebenkämpferin Jana Maximowa, brutale Festnahme durchführten.
       
       Die Polizisten hatten wohl mit Gegenwehr gerechnet, immerhin hatte
       Krautschanka 2008 in Peking Olympiasilber im Zehnkampf gewonnen. Und Ganin
       war einst Weltmeister im Kickboxen. Das eine brutale Festnahme auch tödlich
       enden kann, zeigt der Fall von Roman Bondarenko. Der erst 31-Jährige war am
       Mittwochabend vor seinem Haus von Sicherheitskräften in Zivil
       zusammengeschlagen worden und später an seinen zahlreichen Kopfverletzungen
       verstorben.
       
       Krautschanka und Ganin wurden von einem Schnellgericht wegen der Teilnahme
       an einer unangekündigten Massenveranstaltung zu zehn Tagen Haft verurteilt.
       Dabei hatten sie an einer solchen ja gar nicht teilgenommen. Beide sind in
       Belarus gefeierte Sportstars. Sie sind nun die jüngsten Beispiele dafür,
       mit welchem Rachedurst das System Lukaschenko all denjenigen begegnet, die
       es kritisieren. Dazu gehören etliche Sportler.
       
       Bereits kurz nach den wohl gefälschten Wahlen im August hatten [2][in einem
       offenen Brief] 350 Aktive, Trainer, leitende Verbandsangestellte,
       Funktionäre und Sportjournalisten die Fälschung der Wahlergebnisse sowie
       die grobe Gewalt durch die Sicherheitskräfte beklagt, Neuwahlen sowie
       Freilassung aller inhaftierten Demonstranten und politischen Gefangenen
       gefordert. Mittlerweile hat der Brief über 1.000 Unterzeichner. Es häufen
       sich Woche für Woche die Meldungen, wie Unterstützer den Hass des Regimes
       zu spüren bekommen.
       
       ## Drangsalierte Athleten
       
       Bereits entlassen wurden der Sportdirektor des belarussischen
       Eishockeyverbands, Wladimir Bereschkow, der Cheftrainer der belarussischen
       Sambo-Nationalmannschaft Dmitrij Basiljew sowie der Teamchef der
       belarussischen Frauennationalmannschaft Konstantin Gribow. Gegen ihren
       Willen mitgenommen und sieben Stunden festgehalten wurde Anastasia
       Sorokina. Sie ist nicht nur Vorsitzende des belarussischen Schachverbands,
       sondern auch Vizepräsidentin des Weltschachbundes FIDE.
       
       Über die vollständige Streichung ihrer Sportstipendien wurden unter anderen
       Marathon-Europameisterin Wolha Masuronak sowie Skiakrobatin Aljaksandra
       Ramanouskaja informiert. Die erst 24-Jährige war 2019 in den USA
       Weltmeisterin im Freestyle-Skiing und danach Sportlerin des Jahres in
       Belarus geworden. Bereits im Oktober flog sie aus der Nationalmannschaft.
       Ein Schicksal, welches vergangene Woche auch den besten Schachspieler des
       Landes, Wladislaw Kowalew, und schon etwas früher den Judoka Aljaksandr
       Wachawiak, mehrfacher Medaillengewinner bei Weltmeisterschaften ereilte.
       Und das sind nur wenige Beispiel von vielen.
       
       Regelrecht aus dem öffentlichen Bewusstsein getilgt werden, sollen aber
       offenbar vor allem zwei Athletinnen. Die ehemalige Schwimmweltmeisterin und
       Olympiamedaillengewinnerin Aljaksandra Herassimenja war eine der ersten
       Unterzeichnerinnen des Athletenbrief und führt nun eine Delegation an, die
       sich für die Suspendierungen des belarussischen NOK und einen Ausschluss
       des Landes von den nächsten olympischen Sommer- und Winterspiele stark
       macht.
       
       Und Alena Leutschanka, die als wohl beste belarussische Basketballerin
       keine Gelegenheit ausließ, um sich auf den sonntäglichen Protestzügen zu
       zeigen und dafür ebenfalls schon 15 Tage im Gefängnis einsaß. Auf diversen
       Social-Media-Kanälen waren in den vergangenen Wochen mehrfach Fotos
       aufgetaucht, auf denen zu sehen war, wie große Bilder und Fotografien der
       einstigen Sportlieblinge aus Sportstätten und Plätzen der Öffentlichkeit
       entfernt worden waren.
       
       ## Beispiellose Säuberungswelle
       
       Nach Sergej Tschaly sind das alles Beispiele dafür, wie das Regime
       Lukaschenko in der Repressionsmaschine in den nächsten Gang geschaltet hat
       und nach eher willkürlichen Gewaltakten bei den Demonstrationen nun
       erfolgreiche Menschen des öffentlichen Lebens ins Visier nimmt. Tschaly ist
       Wirtschaftsanalyst und gehört dem Koordinationsrat von Swetlana
       Tichanowskaja an. Auch Aljaksandr Apeikin hat diese Entwicklung schon früh
       kommen sehen.
       
       Der Manager des Handball-Erstligisten Witjas Minsk war einer der
       Hauptinitiatoren des Athletenbriefs und baute mit seinen Mitstreitern eine
       Stiftung und einen Solidarfonds auf. Die bislang gesammelten Spenden von
       rund 100.000 Euro sollen an Athleten gehen, die nach den Protesten ihren
       Job oder ihr Stipendium verloren haben. Apeikin, der sich schon frühzeitig
       nach Kiew abgesetzt hatte, sagt: „Sollte Lukaschenko im Amt bleiben, wird
       es eine beispiellose Säuberungswelle auch unter den Sportlern dieses Landes
       geben.“ Dabei schweigen viele Aktive und Betreuer nach wie vor zu den
       Ereignissen. Das hat mit einer Besonderheit des belarussischen Sports zu
       tun.
       
       Wie in keinem anderen Land sind die professionellen Athleten und
       Athletinnen von den Zuwendungen des Staats abhängig. Wettkampfgebühren,
       Trainings- und Reisegebühren werden vom Sportministerium bezahlt, das
       Stipendien an Sportler vergibt. So gibt es im belarussischen Sport derzeit
       die Wahl zwischen Gewissen und Privilegien. Jeder muss gerade selber
       wählen, was ihm näher ist.
       
       ## Sportler in Uniform
       
       Darüber hinaus erhalten viele Sportler zusätzliche Mittel von den
       Sicherheitskräften. So war etwa die vierfache Biathlon-Olympiasiegerin
       Daria Domratschewa beim belarussischen KGB angestellt. Wie groß der Druck
       ist, der auf den Sportlern lastet, zeigt sich an Marina Arsamassawa. Die
       Welt- und Europameisterin im 800-Meter-Lauf gehörte zu den frühen
       Unterzeichnern des Athletenbriefs und zog ihre Unterschrift später zurück.
       Man hatte sie wohl daran erinnert, dass sie offiziell bei den Streitkräften
       angestellt sei und zum Dienst eingezogen werden kann.
       
       Es gibt auch Athleten, die sich recht unverblümt gegen die Proteste
       stellen. Aryna Sabalenka, elfte der Tennisweltrangliste hat mehrfach
       erklärt, sie sehe keinen Sinn in den Demonstrationen. Immerhin habe sie in
       Belarus bisher in Frieden und Wohlstand gelebt. Und wolle auch, dass alles
       so bleibe. Alena Leutschanka hat die Aussagen mit den Worten quittiert:
       „Ich weiß nicht, in welchem Land du leben willst. Auch in Nordkorea leben
       die Menschen im Frieden.“
       
       Ein bisschen detaillierter und mit mehr Verständnis für die Schweigenden
       erklärt Natalja Petrakowa, eben entlassene Torwarttrainerin der
       Frauenhandballnationalmannschaft die Situation. „Ich denke, dass sowohl im
       Eishockey als auch im Fußball die aktuelle Situation intensiv diskutiert
       wird. Aber man hat ihnen schon in der Schule beigebracht, zu schweigen“,
       sagt sie. Und: „Dass dieselben Menschen plötzlich demokratisch, gesprächig
       und abenteuerlustig werden, ist praktisch unmöglich.“ Sie selbst habe sich
       nie nur als ein kleines Zahnrad in einem großen Getriebe gesehen und nehme
       sich jetzt eben auch mehr raus als der „depressive belarussische
       Staatsbürger“.
       
       Petrakowa sprach ausdrücklich die beiden populärsten Sportarten Eishockey
       und Fußball an, in denen sich kein einziger Nationalspieler bisher zu den
       Ereignissen im Land geäußert hat. Deutlich mutiger zeigten sich da die
       Kollegen vom Beach Soccer. Da stehen die Männer immerhin auf Platz sechs
       der europäischen Rangliste. Einer der weltbesten Torhüter Waleri
       Makarewitsch hatte mit sieben Mitspielern den Athletenbrief unterschrieben
       und war dafür zusammen mit den wohl besten drei Beach-Kickern aus der
       Nationalmannschaft geflogen.
       
       In einem Interview mit dem Sportportal tribuna.by meinte er über die
       Sportler, die sich bis jetzt angepasst zeigen: „Das ist ihr Recht. Ich
       verurteile niemanden. Ich frage mich nur, wie sich die Dinge entwickeln.
       Wenn die Leute, die den Brief unterschrieben haben, dafür bestraft werden,
       dass sie ihre Rolle als Staatsbürger eingenommen haben, wird es wild. Es
       ist eine Sache, nicht zu unterschreiben, aber eine völlig andere, ohne uns
       einfach weiterzumachen.“
       
       15 Nov 2020
       
       ## LINKS
       
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