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       # taz.de -- Menschenrechtler über Proteste in Georgien: „Keiner glaubt mehr an Dialog“
       
       > Menschenrechtler Guram Imnadse hält den Einsatz von Gewalt bei Demos für
       > unverhältnismäßig. Das Vertrauen der Bevölkerung in den Staat sei
       > erschüttert.
       
   IMG Bild: Proteste gegen die Wahlergebnisse am 1. November in Tilflis
       
       taz: Am vergangenen Sonntag sind Polizeikräfte [1][erneut brutal gegen
       Demonstranten vorgegangen]. Wie beurteilen Sie das? 
       
       Guram Imnadse: Die Staatsmacht hat zweimal Wasserwerfer gegen friedliche
       Demonstranten eingesetzt. Das erste Mal passierte das ohne Vorwarnung. Ein
       solches Vorgehen ist aber nur in Ausnahmesituationen erlaubt. Doch
       überzeugende Argumente für ihre eigene Entscheidung hat die Staatsmacht
       nicht. Beim zweiten Mal war die Anwendung von Gewalt unverhältnismäßig. Die
       Proteste waren friedlich, Verstöße gab es allenfalls vonseiten einiger
       weniger Personen.
       
       Einige Faktoren wurden überhaupt nicht berücksichtigt. Ich meine damit die
       Überlastung des Gesundheitssystems wegen Corona. Die Vertreter der Macht
       machen keine Anstalten die Vorfälle zu untersuchen. 19 Personen wurden
       unter dem Vorwurf festgenommen, sie hätten als Gruppe Gewalt ausgeübt. Aber
       von welchen Verbrechen sprechen wir, wenn die Mitarbeiter der Rechtsorgane
       den Aufruhr doch selbst geschürt haben.
       
       Das ist bereits die vierte Protestaktion in anderthalb Jahren, die mit
       Gewalt aufgelöst wird. Wie groß ist das Risiko, dass sich das wiederholt?
       An diesem Samstag will die Opposition ja wieder demonstrieren...
       
       Das größte Problem ist, dass bisher auf keinen Vorfall angemessen reagiert
       worden ist. Nicht ein einziges Mal wurden Ermittlungen aufgenommen und
       Schuldige bestraft. Da ist doch klar: Das Risiko, dass Polizeibeamte ganz
       ungeniert und ungerechtfertigt Gewalt anwenden, wird immer größer. Mit
       ihrer Rhetorik gießt die Staatsmacht zusätzlich Öl ins Feuer. Sie denkt gar
       nicht daran, sich um einen Dialog mit der Opposition zu bemühen.
       
       Ihr geht es nur darum, ihre Machtposition auszubauen und der Bevölkerung
       gegenüber ihre Auffassung durchzusetzen, im Recht zu sein – und das mit
       Hilfe von Spezialeinheiten und Gewalt. Ganz zu schweigen von dem Leben und
       der Gesundheit der Menschen. Das alles ist ein ernsthafter Rückschlag für
       unsere Perspektive einer stabilen demokratischen Entwicklung.
       
       Will die Staatsmacht die Bevölkerung einschüchtern? 
       
       Absolut. Sie ist nicht in der Lage, Verantwortung zu übernehmen.
       Bestenfalls endet das mit nichtssagenden Entschuldigungen. Jede Anwendung
       von Gewalt beeinflusst die Stimmung in der Bevölkerung. Die Menschen sehen,
       dass ihre Versammlungsfreiheit nicht geschützt ist und sie leicht zu Opfern
       von Polizeigewalt werden können. Und das ist schrecklich.
       
       Führt das alles zu einem Verlust von Vertrauen in die staatlichen
       Institutionen? 
       
       Das versteht sich von selbst. Doch nicht nur das Vertrauen in den Staat
       wird erschüttert. Die Menschen verlieren auch den Glauben an die
       Möglichkeit eines Dialogs. Das Ergebnis ist, dass der Nihilismus in der
       Bevölkerung wächst.
       
       Müssen die Standards in Georgien für den Einsatz von Spezialmitteln, wie
       Wasserwerfern und Gummigeschossen, überprüft werden? 
       
       Auf dem Papier sind unsere Gesetze in Ordnung. Sie schützen grundlegenden
       Rechte und Freiheiten der Bevölkerung. Unsere Standards entsprechen
       internationalen Normen, aber die praktische Anwendung funktioniert nicht.
       Dazu kommt, dass keine Regierung bisher den politischen Willen hatte, das
       zu ändern.
       
       Seit dem 9. November gilt in Georgien eine Sperrstunde. Von 22 bis 5 Uhr
       sind die Versammlungs- und Bewegungsfreiht eingeschränkt. Wie beurteilen
       Sie diesen Schritt? 
       
       Wir haben Corona, das ist eine Tatsache. Doch das Problem ist, dass die
       Regierung die Pandemie dazu benutzt, um die Exekutive zu stärken. Jetzt
       schränkt sie Verfassungsrechte ein, ohne das Parlament zu konsultieren. Der
       Entscheidungsprozess ist total intransparent. Die Gesellschaft weiß
       überhaupt nicht, welche wissenschaftlichen Argumente hinter diesen
       Entscheidungen stehen. Schon vor der [2][Parlamentswahl] (sie fand am 31.
       Oktober statt, Anm. d. Red.) bestand die Gefahr, sich mit dem Virus
       anzustecken. Doch die Einschränkungen wurden sofort nach Verkündung der
       Wahlergebnisse eingeführt. Das hat große Unzufriedenheit in der Bevölkerung
       ausgelöst und sie misstrauisch werden lassen.
       
       Aus dem Russischen [3][Barbara Oertel]
       
       14 Nov 2020
       
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