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       # taz.de -- Wie (nicht) über Moria gesprochen wurde: Dem Bundestag nicht der Rede wert
       
       > Deutsche Abgeordnete scherten sich bis zum Brand im Geflüchtetenlager
       > Moria kaum um die Menschen dort. Das zeigt eine taz-Analyse.
       
   IMG Bild: Flucht aus dem brennenden Lager: bis zum Brand war Moria für den Bundestag nicht interessant
       
       Berlin taz | Es ist der 18. August 2020, Kanzlerin Angela Merkel ist zu
       Besuch im Düsseldorfer Landtag. Inmitten einer Pressekonferenz mit dem
       nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Armin Laschet wird Merkel auf
       die Situation der Geflüchteten im griechischen Lager Moria angesprochen.
       Für die Bundesregierung handele es sich zwar „nicht um ein griechisches,
       aber auch nicht um ein deutsches Problem“, sagt Merkel.
       
       Zu diesem Zeitpunkt befinden sich rund 12.000 Menschen in dem maßlos
       überfüllten Lager auf der griechischen Insel, unter ihnen 4.000 Kinder.
       Unruhen, Polizeibrutalität und immer wieder auch Tote prägten das Bild
       eines Lagers, das die Geflüchteten vor Ort als Gefängnis bezeichnen. Und
       nur wenige Wochen nach der Pressekonferenz werden in Moria die Zelte und
       [1][das letzte Hab und Gut der Menschen brennen], die dort seit Jahren
       ausharrten.
       
       Ihr Schicksal scherte die Abgeordneten im Bundestag vor dem Brand fast gar
       nicht, wie eine Untersuchung der taz zeigt – und auch Merkel äußerte sich
       monatelang kaum zu dem Thema. Mithilfe des Datensatzes ParlSpeech hat die
       taz alle Reden analysiert, die in der laufenden Legislaturperiode im
       Bundestag gehalten wurden. Dafür wurden die Dokumente automatisiert danach
       gefiltert, wie oft sie die Worte „Lesbos“ und „Moria“ enthielten.
       
       Vor dem Brand Anfang September wurde in rund drei Jahren und bei über
       700.000 gefallenen Sätzen im Bundestag das Lager lediglich 39 Mal direkt
       angesprochen. Wenn überhaupt, dann waren es die Abgeordneten von Linken und
       Grünen, die die Situation auf Lesbos erwähnten. Rund 18 Mal sprachen die
       Linken das Lager an, 11 Mal die Grünen. Am wenigsten redeten FDP und Union
       über Moria: Vor dem Brand nahmen beide Fraktionen lediglich zweimal die
       Worte Lesbos oder Moria in den Mund.
       
       Lediglich im März dieses Jahres fielen die Begriffe immerhin 18 Mal: Die
       Grünen hatten eine Diskussion darüber losgetreten, ob die Bundesregierung
       nicht wenigstens 5.000 besonders Schutzbedürftige aus griechischen Lagern
       nach Deutschland evakuieren könne. Immerhin 500 durften tatsächlich kommen.
       Danach aber verschwand das Thema wieder fast vollständig aus den Reden der
       Bundestagabgeordneten.
       
       Zwar ist denkbar, dass die Abgeordneten das Camp indirekt ansprachen.
       Weiterführende Stichproben mit Begriffen wie „Flüchtlingslager“, „Camp“
       oder „Insel“ ergaben zwar etwas mehr Treffer, bestätigen allerdings den
       Trend: Bis zum Brand haben sich die meisten Abgeordneten in ihren Reden
       kaum mit den Menschen in Moria beschäftigt.
       
       Auch Kanzlerin Angela Merkel äußerte sich nur äußerst selten zu Moria: In
       all den Reden, Pressekonferenzen, Interviews und Regierungserklärungen, die
       auf ihrer Website genauestens dokumentiert werden, hat die Bundeskanzlerin
       in diesem Jahr vor dem Brand lediglich sechsmal über die Geflüchteten in
       Griechenland gesprochen.
       
       Nach dem Brand rückte das Thema dann kurzzeitig in den Fokus der
       Öffentlichkeit – und plötzlich interessierten sich auch die Abgeordneten
       für das Lager, ganze 126 Mal war allein im September auf einmal von der
       Situation auf Lesbos die Rede.
       
       Auch Fraktionen, die sich davor besonders schweigsam gegeben hatten,
       äußerten sich plötzlich. Sogar die AfD erwähnte im Monat des Brands das
       Lager 19 Mal – wobei die Rechten in ihren Beiträgen vor allem darum bemüht
       waren, sich gegen die Aufnahme der obdachlosen Geflüchteten zu stellen.
       
       Angela Merkel griff das Thema nach dem Brand ebenfalls auf. So sagte sie
       etwa während einer Veranstaltung der Konrad Adenauer-Stiftung, die
       Situation in Moria zeige „wie in einem Brennglas, die ganze Problematik der
       Migration, mit der wir uns seit 2015 beschäftigen“.
       
       So schnell die Zahl der Reden zu Moria nach dem Feuer hochschossen, so
       schnell verschwand das Thema anschließend allerdings auch wieder aus dem
       Bundestag. In den folgenden Wochen gab es erneut nur eine Handvoll von
       Erwähnungen. Die Geflüchteten in Moria: Für die meisten Abgeordneten war
       das kein Thema mehr.
       
       Immerhin hat die Bundesregierung Merkels Worten aus dem September einige
       konkrete Taten folgen lassen: Die GroKo hat angekündigt, rund 1.500 der
       Bewohner*innen von Moria nach Deutschland holen zu wollen – zumindest
       einige sind mittlerweile auch hier angekommen.
       
       Die anderen Geflüchteten müssen weiter auf eine europäische Lösung warten.
       Der Großteil von ihnen sitzt nun in anderen Lagern in Griechenland fest.
       Die Bedingungen dort, das geht etwa aus [2][Berichten der
       Nichtregierungsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“] hervor, sind teils noch
       schlimmer als sie es in Moria waren.
       
       29 Nov 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Nach-dem-Brand-in-Moria/!5713509
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       ## AUTOREN
       
   DIR Julian Schmidt-Farrent
       
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