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       # taz.de -- Krieg um Bergkarabach: Nicht wegschauen
       
       > Der Waffenstillstand für Bergkarabach hat wenig Perspektive. Gefragt sind
       > EU und Nato: Sie müssen zwischen Armenien und Aserbaidschan vermitteln.
       
   IMG Bild: Arnmenischer Wachposten an der neuen Grenze zur Region Kalbajar in Aserbaidschan
       
       Der von Russland [1][am 9. November vermittelte Waffenstillstand] hat dem
       blutigen Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan um Bergkarabach zunächst
       ein Ende gesetzt.
       
       Aber er bietet keinen Ansatz für ein dauerhaftes, sowohl Armenien wie
       Aserbaidschan befriedigendes Arrangement. Der künftige Status der jetzt
       durch russische Friedenstruppen gesicherten Teile Bergkarabachs ist völlig
       offen.
       
       Die Mitgliedsstaaten von EU und Nato haben dem Konflikt bisher teilnahmslos
       zugesehen. Für sie stellen sich grundlegende Fragen: Dürfen der Einsatz
       militärischer Gewalt, das Recht des Stärkeren und das Versagen friedlicher
       Konfliktregelungsmechanismen und der multilateralen Organisationen einfach
       hingenommen werden?
       
       Aserbaidschan hat durch den Krieg nicht bloß seine territoriale Integrität
       wiederherstellen und sich das zurückholen wollen, was sich Armenien durch
       den Krieg 1992–94 genommen hatte. Der Fall liegt komplexer. Es geht im Kern
       um den Ausgleich zwischen zwei schon in der KSZE-Schlussakte 1975
       niedergelegten Leitprinzipien: dem von Aserbaidschan reklamierten Recht auf
       Integrität seines Staatsgebietes und dem Recht auf Selbstbestimmung der in
       Bergkarabach lebenden Armenier.
       
       ## Erdoğan als Profiteur
       
       Nach 1994 hat Aserbaidschan außergewöhnlich große Anstrengungen zur
       Modernisierung und Aufrüstung seiner Streitkräfte unternommen; dem hatte
       Armenien, das anders als Aserbaidschan nicht über beträchtliche Einkünfte
       aus der Erdöl- und Erdgasförderung verfügte, kaum etwas entgegensetzen
       können. Die Vereinten Nationen und die OSZE haben die untrüglichen
       Anzeichen für das aserbaidschanische Sinnen auf Revanche für die Niederlage
       im ersten Krieg um Bergkarabach nicht zur Kenntnis genommen. Zudem haben
       sie dem Handeln der Konfliktparteien sowie Russlands und der Türkei
       tatenlos zugesehen. Auch die Nato wäre gefordert gewesen. Sie hätte ihr
       Mitglied Türkei in die Schranken weisen müssen. [2][Präsident Erdoğan hat
       in dem Konflikt offenbar die Chance gesehen], sich als Förderer der
       „muslimischen Sache“ zu gerieren und seinen Einfluss in einer Region
       auszubauen. Selbst wenn der von Russland überraschend „verordnete“
       Waffenstillstand als Zeichen der Stärke und des andauernden Einflusses
       Russlands im Kaukasus gewertet wird, so hat doch die Türkei durch die
       Unterstützung Aserbaidschans einen Fuß in die Tür bekommen. Künftige
       Spannungen und potenzielle Konflikte, von denen auch das Bündnis insgesamt
       betroffen wäre, sind damit programmiert.
       
       Es ist nicht einzusehen, warum der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen
       sich nicht mit der Lage um Bergkarabach befasst. Eine zu verabschiedende
       Resolution sollte nicht nur die militärische Offensive Aserbaidschans und
       die Kriegstreiberei der Türkei und die langjährige Verletzung der
       territorialen Integrität Aserbaidschans verurteilen. Besondere
       Aufmerksamkeit muss auch der Aufklärung und unerbittlichen Verfolgung der
       Kriegsverbrechen gelten, die vor allem der aserbaidschanischen Seite zur
       Last gelegt werden. Und schließlich sollte sie auch den Anstoß für die
       Erarbeitung einer diplomatischen Konfliktlösung geben.
       
       Hierzu wäre insbesondere die OSZE berufen. Sollen ihre Bemühungen nicht wie
       seit 1994 immer wieder fruchtlos im Sande verlaufen, so muss ihr endlich
       die notwendige politische Aufmerksamkeit geschenkt werden. Es bedarf
       gezielten Drucks, um Armenien und Aserbaidschan an den Verhandlungstisch zu
       bringen und zu gewährleisten, dass sie sich auf einen Kompromiss einlassen,
       der den Prinzipien territoriale Integrität und Selbstbestimmungsrecht in
       fairer Weise Rechnung trägt. Es ist anzunehmen, dass vor allem
       Aserbaidschan, das sich als Sieger des Krieges fühlt, bestärkt durch die
       Türkei wenig Veranlassung sehen wird, Konzessionen zu machen.
       
       ## Eine Aufgabe für die OSZE
       
       Daher dürften hier besonders die EU und die Nato gefordert sein,
       flankierend Maßnahmen zu ergreifen. Diese sollten erforderlichenfalls auch
       vor Sanktionen und insbesondere dem Stopp der Ausfuhr militärisch
       relevanter Güter sowohl nach Aserbaidschan wie in die Türkei nicht Halt
       machen.
       
       Aber auch die Nato muss ohnehin dem erratischen Verhalten und den
       Großmachtfantasien des türkischen Präsidenten Erdoğan Einhalt gebieten.
       Beschwichtigungsversuche haben Erdoğan in seiner Politik, die die
       Stabilität im Kaukasus, in Zentralasien und im Nahen Osten gefährdet und
       den Zusammenhalt des Nato-Bündnisses in Frage stellt, nur noch weiter
       ermutigt.
       
       Und schließlich bedarf Armenien in der aktuell schwierigen Situation des
       politischen Beistands und humanitärer wie wirtschaftlicher Hilfen. Dies
       gilt vor allem, um die junge demokratische Entwicklung des Landes zu
       fördern und es in der exponierten geografischen Lage zu versichern, dass
       ein neuer Genozid wie 1915 – dessen Gefahr innenpolitisch wieder beschworen
       wird – nicht droht und es auf westliche Solidarität bauen kann.
       
       Man mag einwenden, dass dies alles angesichts der bestehenden tiefen
       Feindschaft zwischen Armenien und Aserbaidschan, der Erfahrungen mit der
       Fähigkeit der OSZE zur Konfliktlösung, aber auch der bisherigen Politik von
       Nato und EU wohlfeil oder wirklichkeitsfremd klingt. Und dennoch:
       Entschiedenes außenpolitisches Engagement ist auch eine Frage der
       außenpolitischen Glaubwürdigkeit. Die einfache Fügung in das realpolitisch
       Unvermeidliche kommt einer außenpolitischen Abdankung gleich. Apathie und
       fortgesetztes politisches Lavieren wird der Bedeutung des Krieges um
       Bergkarabach für die Sicherheit auf unserem Kontinent nicht gerecht. Die
       nach dem Kalten Krieg im Rahmen der KSZE/ OSZE geschaffene
       Sicherheitsordnung ist tief erschüttert. Die Mitgliedstaaten der EU (aber
       auch der Nato) müssen sich endlich zusammenraufen, um außenpolitisch nicht
       Spielball einzelner Mächte zu sein. Wir müssen uns für ungemütlichere
       sicherheitspolitische Zeiten wappnen.
       
       1 Dec 2020
       
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