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       # taz.de -- Geflüchtete Frauen in Erstaufnahmelagern: Flucht vor Gewalt in Gewalt
       
       > Frauen haben in Eisenhüttenstadt gegen sexualisierte Gewalt in
       > Erstaufnahmelagern protestiert. Die 21-jährige Mariami erzählt von ihren
       > Erfahrungen.
       
   IMG Bild: Die „Women in Exile“ helfen geflüchteten Frauen, ihre Würde zu verteidigen
       
       Eisenhüttenstadt Am Rand von Eisenhüttenstadt geraten Schwarze Frauen in
       eine Auseinandersetzung mit Polizisten. „This is our right!“, sagt eine der
       Frauen mit fester Stimme. Die anderen Frauen singen und tanzen derweil
       unbeirrt mit Transparenten und Schildern in Richtung Polizei. Die Worte
       „Lager“, „Frauen“ und „Gewalt“ sind am häufigsten zu lesen.
       
       Die Szene spielt sich am vergangenen Mittwoch ab, am 25. November, dem
       Internationalen Tag gegen [1][Gewalt an Frauen], zwischen Plattenbauten in
       einer Sackgasse, die auf Brandenburgs Zentrale Ausländerbehörde und die
       angrenzende Erstaufnahmeeinrichtung zuläuft. Die Frauen haben eine Menge
       Kraft und eine Demonstrationsgenehmigung mitgebracht. Die Mittagssonne
       scheint ihnen auf den Rücken.
       
       Dass die örtliche Polizei sie nun auf einen anderen Platz außerhalb der
       Sichtweite von Behörde und Einrichtung versetzen möchte, akzeptieren sie
       nicht. Sie brauchen nicht einen Moment, um warmzulaufen. „I don’t even move
       for this fucking car“, sagt eine Frau und wendet sich von einem Polizeiauto
       ab. Eine andere sagt: „Es gibt ein Gleichstellungsgesetz in diesem Land.“
       Sie fühlen sich ob ihrer Herkunft benachteiligt – es wäre nicht das erste
       Mal.
       
       Die Frauen haben sich hier aus ganz Brandenburg und Berlin versammelt. Ein
       Großteil von ihnen blickt auf eine Fluchtgeschichte zurück. Sie selbst
       waren in Erstaufnahmeeinrichtungen, die sie gelehrt haben, auf ihren
       Rechten zu bestehen. [2][Als „Women in Exile and Friends“ helfen sie nun
       auch anderen geflüchteten Frauen] dabei, ihre Würde zu verteidigen und sich
       zu schützen. Eine, der geholfen wurde, ist die 21-jährige Mariami, die der
       taz nur ihren Vornamen nennen will.
       
       Mariami ist an diesem Tag nicht in Eisenhüttenstadt. Am Telefon sagt sie,
       schon von dem Ort zu sprechen, falle ihr schwer. Redet sie über die Zeit in
       der Einrichtung, dann spricht sie von einer „so dunklen Zeit“. Dabei begann
       ihre Geschichte in Deutschland zunächst unbeschwert im Sommer 2019 mit
       einem Visum als Au-pair in Berlin. Als lesbische Frau fühlte sie sich in
       dem Jahr so sicher und frei wie nie zuvor in ihrem Leben. Sie lebte die
       „gute Seite Deutschlands“, wie sie heute sagt.
       
       Zurück in ihr Geburtsland Georgien zu gehen, war bald keine Option mehr.
       Als in diesem Sommer eine Ausbildung wegen der Coronapandemie abgesagt
       wurde, entschied sich Mariami für einen anderen Weg. Sie beantragte Asyl
       und landete in Eisenhüttenstadt. Dort traf sie auf die Homophobie
       georgischer Männer, vor der sie geflohen war, aber auch auf die andere,
       „furchtbare Seite Deutschlands“.
       
       Ihr Zimmer in Eisenhüttenstadt war in einem Schutzhaus – einer separaten
       Unterkunft für vulnerable Gruppen: Frauen, Kinder, LGBTQ*-Personen. Es ist
       nichts als ein Wohnhaus mit einer Cafeteria. Bewegung, Besorgungen, frische
       Luft: Fehlanzeige. Wer das Haus verlässt, gibt die Sicherheit an der
       bewachten Tür ab. Mariami ist es aus Georgien gewohnt wegzuhören und sich
       zurückzuziehen, um sich keiner weiteren Gefahr auszusetzen. In
       Eisenhüttenstadt erfuhr sie erneut und mehrfach sexualisierte Gewalt. „Hier
       in Deutschland akzeptiere ich das nicht“, sagt sie heute.
       
       Das Festhalten an den eigenen Rechten kann sich lohnen. In Eisenhüttenstadt
       weicht die Polizei, die Frauen ziehen mit Gesang und Pfiffen auf die von
       ihnen angemeldete Fläche. „Olé, Olé, Solidarité“, prallt es an einen
       unsanierten Neubaublock.
       
       ## Frauen, die für Gerechtigkeit kämpfen
       
       Ein älterer Mann aus Eisenhüttenstadt verfolgt die Szene, schaltet sich
       sogar in die Diskussion mit der Polizei ein. Als die Frauen den Platz vor
       der zentralen Ausländerbehörde und der Erstaufnahmeeinrichtung erreicht
       haben, begibt er sich wieder in den Hintergrund. „Die sind toll, oder?“,
       fragt der Mann. Sein Mund ist von Stoff bedeckt, doch seine Augen lächeln:
       [3][„Überall auf der Welt sind es gerade die Frauen], die für Gerechtigkeit
       kämpfen“.
       
       Glaubt man den Redebeiträgen und Demonstrationsschildern in
       Eisenhüttenstadt, dann wird schnell klar, warum: Es geht um ihr Überleben.
       Die häufigsten Fluchtgründe von Frauen sind Gewalterfahrungen und die
       Vorenthaltung von Rechten. Sie wissen, wovon sie reden und wofür sie
       kämpfen.
       
       „In den Lagern gibt es viel sexuelle Belästigung. Das Problem ist: Wenn so
       was passiert, wird der Mann vielleicht aus dem Camp genommen und in ein
       anderes verlegt. Das ändert aber nichts am Problem“, sagt Elizabeth Ngari,
       eine der Gründerinnen von Women in Exile am Rande der Demonstration. Im
       Jahr 1996 kam sie aus Kenia nach Deutschland. Sie kennt die Situation in
       Einrichtungen, die sie und andere Frauen „Lager“ nennen. Seit der
       Coronapandemie bergen die Einrichtungen zusätzliche Risiken. Zum einen,
       weil es in vielen Einrichtungen nach wie vor schwer sei, den Mindestabstand
       einzuhalten. Die Zimmer liegen dicht an dicht, sind an manchen Orten von
       mehreren Personen belegt und die Gemeinschaftsräume werden von deutlich
       mehr Menschen genutzt, als gewöhnliche Haushalte zählen.
       
       Eine Rednerin auf der Demonstration erzählt: Frauen kommen an und gehen
       sofort in Quarantäne. Danach geht es direkt ins Interview, das über ihr
       Asyl entscheidet. Sie haben keine Möglichkeit, sich mit Menschen von
       außerhalb darauf vorzubereiten – eben eines der Angebote von Women in
       Exile.
       
       ## Von außen unvorstellbar
       
       „Lager“, ruft eine Frau ins Mikrofon, das an eine knarzende mobile Box
       angeschlossen ist. „Abschaffen!“, antwortet ein Chor. Drei junge Männer mit
       Getränkedosen laufen zum Tor der Einrichtung. Zwei gehen erst tuschelnd,
       dann lachend an den Frauen vorbei. Der dritte lässt sich etwas zurückfallen
       und studiert die Transparente.
       
       Auf der anderen Seite eines hohen Metallzauns liegt das Büro von Olaf
       Jansen. Er ist der Leiter der Zentralen Ausländerbehörde Brandenburgs und
       zeichnet ein anderes Bild als die Frauen. In der Einrichtung werde „niemand
       mit seinen Sorgen und Befürchtungen alleingelassen“, antwortet er auf eine
       Anfrage zu Mariamis Fall. Es gebe ein engmaschiges psychosoziales
       Betreuungsangebot und auf jeden Vorfall würde umgehend mit der Verlegung
       der mutmaßlichen Täter reagiert.
       
       In Mariamis Fall geschah das nicht, sagt sie. Sie beteuert, jeden Übergriff
       gemeldet zu haben. Als sie einmal Sicherheit bei einem Mitarbeiter der
       Unterkunft gesucht habe, habe es geheißen, hier im Camp müsse sie andere
       Kleidung tragen – ihr selbst sei die Verantwortlichkeit für die erfahrene
       Belästigung zugeschrieben worden.
       
       Nach einem anderen Übergriff habe man ihr zwei Optionen angeboten: Ins
       Zimmer zu gehen oder etwas zu unternehmen. Von Letzterem habe man ihr
       abgeraten. Während sie in ihrem Zimmer festgesessen habe, habe der Täter
       draußen an einem Fußballturnier teilgenommen.
       
       Von außen sei es unvorstellbar, wie furchtbar die Situation für Frauen in
       der Einrichtung ist, sagt Mariami. Für lesbische Frauen ist es besonders
       gefährlich, da sie zusätzlich Opfer von Homophobie werden und noch weniger
       Respekt erfahren, verdeutlicht auch Women in Exile.
       
       Mithilfe von Elizabeth Ngari und der Organisation wurde Mariami nach drei
       Monaten von der Ausländerbehörde in eine andere Unterkunft verlegt. Sie
       fühlt sich nun sicher, „so sicher“, sagt sie genüsslich. Über das, was in
       Eisenhüttenstadt geschah, wird sie nie wieder freiwillig sprechen, nur
       hier, sagt sie. Nachdem Women in Exile ihre Lage verbessert hat, will sie,
       dass sich die Umstände in Erstaufnahmeeinrichtungen wie der in
       Eisenhüttenstadt grundlegend auch für andere Frauen verändern.
       
       1 Dec 2020
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Pia Stendera
       
       ## TAGS
       
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