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       # taz.de -- Plädoyers im Prozess zum Halle-Anschlag: Kampf gegen Unmenschlichkeit
       
       > Im Prozess zum Halle-Anschlag fordern die OpferanwältInnen die
       > Höchststrafe für den Angeklagten – und kritisieren die Anklage.
       
   IMG Bild: Geht es nach Nebenklage und Bundesanwaltschaft kommt Stephan B. nicht mehr frei
       
       Magdeburg taz | Es ist der erste Tag, an dem es Mandy S. in den Prozess
       schafft. Die zierliche Frau setzt sich hinten in den Zuhörerbereich, knetet
       ein Taschentuch. Sie hört, wie vorne ihr Anwalt auf den Angeklagten
       einredet. „Sie haben Ihr eigenes Leben zerstört“, sagt Christian Eifler zu
       Stephan B. „Sie haben das Leben Ihrer Familie zerstört. Und Sie haben einer
       Mutter auf ekelhafteste Weise ihr Kind genommen. Es war alles, was sie
       hatte.“
       
       Mandy S. schließt die Augen, tupft sich Tränen weg. Sie ist diese Mutter.
       Ihr Sohn Kevin wurde am 9. Oktober 2019 in Halle ermordet – von Stephan B.
       Der [1][Rechtsextremist] hatte erfolglos versucht, die Synagoge in der
       Stadt zu stürmen. Er scheiterte, erschoss aber die Passantin Jana L., und
       später im „Kiezdöner“ Kevin. Einen 20-Jährigen, geistig behindert, mit
       gerade begonnener Malerlehre, enthusiastischer Fan des Halleschen FC.
       
       Es ist auch Erkan Görgülü, der Anwalt von Kevins Vater, der Stephan B.
       danach direkt angeht. Der hört zu, ungerüht. Kevin habe in seinem Leben
       immer gekämpft, sagt Görgülü. Und er, Stephan B.? Behaupte einen Kampf
       gegen eine vermeintliche Verdrängung der Weißen durch Juden und Migranten.
       Görgülü schüttelt den Kopf. B. habe doch nur Zuhause bei seiner Mutter
       gesessen und nichts getan. „Woraus wurden Sie gedrängt? Aus Ihrem
       Kinderzimmer?“ Und was für ein Kampf war das? Gegen eine arglose Passantin
       und einen jungen Mann, der sich im Kiezdöner hinter einem Kühlschrank
       versteckte und um sein Leben flehte? „Das ist kein Kampf, das ist feige.“
       
       Dann schließt Görgülü mit den letzten Worten von Kevin S. Sie sind auf dem
       Tatvideo dokumentiert, das der Angeklagte selbst filmte. „Nein, bitte
       nicht, bitte nicht.“ Die Worte verhallen im stillen Saal. Und Mandy S. kann
       nicht mehr, sie weint.
       
       ## Ein „fanatisch-ideologischer Einzeltäter“
       
       Die Worte fallen am Dienstag im Prozess zum Terroranschlag in Halle. 21
       Tage wurde hier seit Juli verhandelt, nun nähert sich der Prozess dem Ende,
       die Opferanwälte halten ihre Plädoyers. Bereits zuvor hatten die Ankläger
       der Bundesanwaltschaft, die Höchststrafe für Stephan B. gefordert:
       lebenslänglich mit anschließender Sicherungsverwahrung. Der 28-Jährige habe
       einen der „widerwärtigsten antisemitischen Akte seit dem Zweiten Weltkrieg“
       begangen. Er sei ein „fanatisch-ideologischer Einzeltäter“, der sich aber
       als Teil eines rechtsextremen Netzwerks verstanden habe.
       
       Der Strafforderung schließen sich die Opferanwälte an, verweisen auf die
       Reuelosigkeit des Angeklagten. „Dieser Mann ist gefährlich. Er war es, er
       ist es“, sagt Görgülü. Das Gericht müsse dafür sorgen, dass Stephan B. „nie
       wieder freikommt“.
       
       Die AnwältInnen fächern aber auch noch einmal die Facetten der Tat auf. Sie
       verweisen auf das gesellschaftliche Umfeld, in dem der Attentäter handelte,
       auf die Vorläuferdebatten von Sarrazin bis zur AfD, die Rassismus gegen
       Migranten salonfähig machten. Auf B.s Familie, die wegschaute. Auf seine
       rechtsextreme Ideologie, die eine „weiße“ Überlegenheit predigt und Hass
       säht. Auf seine Imageboard-Community, in der Rechtsterror wie in El Paso
       oder Christchurch glorifiziert und zu weiteren Taten angestachelt wird. Und
       die AnwältInnen appellieren, weitere Taten zu verhindern. Man könne nicht
       mehr den Anfängen wehren, sagt Kristin Pietrzyk. „Wir sind mitten drin.“
       
       Die AnwältInnen kritisieren auch erneut, wie unsensibel die Polizisten am
       Tattag mit den Opfern umgingen und wie wenig die Ermittler [2][das
       Online-Netzwerk des Attentäters] ausforschten. Der Bundesanwaltschaft
       werfen einige vor, dass sie es nicht als versuchten Mord wertete, dass
       Stephan B. auf [3][den Kiezdöner-Betreiber Ismet Tekin] schoss und
       versuchte, den Passanten Aftax I., einen Somalier, [4][mit seinem Auto zu
       erfassen]. „Sie spielen mit dieser Deutung dem Angeklagten in die Hände“,
       mahnt Onur Özata.
       
       ## Stephan B. grinst beim Zuhören
       
       Auch Ismet Tekin wendet sich noch einmal selbst an die Bundesanwälte. „Bei
       allem Respekt, ich akzeptiere nicht, was Sie gesagt haben.“ Warum habe er
       bis heute Alpträume und Schmerzen? Natürlich habe Stephan B. ihn töten
       wollen. „Sonst wäre ich doch hingegangen und hätte ihn gestoppt.“
       
       Anwältin Antonia von der Behrens verliest Erklärungen von zwei Betroffenen.
       Diese beklagen einen bis heute andauernden Antisemitismus in ihrem Alltag –
       und das Wegschauen von Umstehenden. „Als Kind habe ich mir nie vorgestellt,
       ich müsse als Jüdin irgendwann einmal um mein Leben fürchten“, bekundet
       eine Betroffene. „Ich dachte, dass gehört der Vergangenheit an. Was ich
       nicht verstanden habe, ist, dass die Vergangenheit ein Teil unserer
       Gegenwart ist.“
       
       Die AnwältInnen verweisen aber auch auf die starke Reaktion der Betroffenen
       nach dem Anschlag. Auf die Gläubigen aus der Synagoge, die vor Gericht
       bekräftigen, dass sie ihren Glauben weiterleben werden, jetzt erst recht.
       Die dem Angeklagten sagten, er habe sich mit den falschen Leuten angelegt.
       Und auf die Engagierten, die auch an diesem Tag wieder vor dem Gericht eine
       Kundgebung abhielten. Von einer „schallenden Ohrfeige“ spricht Anwalt
       Görgülü. „Die Gesellschaft hat Ihnen die Stirn geboten.“
       
       Anwalt Mark Lupschitz, der mehrere Gläubige aus der Synagoge vertritt,
       zitiert das jüdische Partisanenlied „Mir zaynen do“. Dieses „Wir sind da“
       sei auch die Botschaft seiner Mandanten. „Wir lassen uns unsere Lebensweise
       nicht nehmen. Und wir sind viele.“ Seine Mandanten seien keine Opfer, sagt
       Lupschitz. Denn sie hätten den Kampf gegen Unmenschlichkeit aufgenommen.
       Mehrere AnwältInnen dankten dem Gericht, dass es der Sicht der Betroffenen
       breiten Raum gelassen habe.
       
       Stephan B. verfolgt all dies zurückgelehnt, teils grinsend. Im Prozess
       hatte er die Taten eingeräumt und beklagt, dass er nicht mehr Menschen in
       der Synagoge töten konnte. Auch er wird demnächst noch ein Schlusswort
       sprechen dürfen und es lässt nichts Gutes erwarten. Am 21. Dezember will
       das Gericht dann sein Urteil fällen.
       
       1 Dec 2020
       
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   DIR Konrad Litschko
       
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