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       # taz.de -- Diskussion über Jogi Löw: Wie wir kicken, wie wir leben
       
       > Für die Nationalelf werden „bösere“ Spieler gefordert, vom Trainer mehr
       > „Aggressivität“. Aber wer will, dass wir so künftig miteinander
       > verkehren?
       
   IMG Bild: Noch in der Niederlage ein kooperativer Trainer: Joachim Löw bei der WM 2018
       
       Das [1][0:6] der deutschen Nationalmannschaft gegen Spanien fiel terminlich
       genau in die ARD-Themenwoche „Wie wollen wir leben?“. Deutschlands größte
       Fernsehanstalt hatte unter dem Hashtag #wieleben die Frage gestellt, welche
       Zukunft wir wollen. Schließlich hat das Coronavirus „die Welt, wie wir sie
       kannten, aus den Angeln gehoben“, wie es auf der [2][ARD-Website] heißt.
       „Und doch bietet jede Krise auch die Chance, Strukturen zu überdenken, aus
       Erlebtem zu lernen und neue Ansätze zu wagen.“
       
       Zur „Welt, wie wir sie kannten“ gehört ganz sicher auch die
       Männernationalmannschaft. Entsprechend sei erlaubt, sie in die Frage „Wie
       wollen wir leben?“ miteinzubeziehen. Natürlich stößt diese Frage eine
       höchst normative Diskussion an, und eine kontroverse, da es sehr
       unterschiedliche Ansichten darüber gibt, was erstens wichtig oder unwichtig
       ist und wie zweitens jemand oder etwas sich ändern soll oder muss, um eine
       bessere Zukunft einzuläuten.
       
       Die emotiven Interpretationen und Auswertungen der 0:6-Niederlage in
       Spanien geben Aufschluss darüber, welche normativen Erwartungen gegenüber
       einer deutschen Fußballnationalmannschaft und ihrem Bundestrainer von einer
       Mehrheit der Fans, Experten und Medienvertreter implizit vorausgesetzt
       werden.
       
       Stellvertretend für alle besprachen das im ARD-Fernsehstudio der
       Ex-Fußballprofi und -Nationalspieler Bastian Schweinsteiger und Moderator
       Matthias Opdenhövel. Insbesondere [3][Schweinsteiger] ärgerte sich darüber,
       dass sich die Mannschaft nicht geschlossen „wehrte“. Zur Halbzeit forderte
       Schweinsteiger, dass die Spieler „böser“ sein sollten. Opdenhövel
       kritisierte die mangelnde „Aggressivität“ der Spieler auf dem Platz und des
       Nationaltrainers am Spielfeldrand. In den folgenden Tagen wurde diese
       Beurteilung vielerorts aufgegriffen.
       
       Eine derart kämpferische Rhetorik ist nicht besonders überraschend. Sie
       gehört zum Fußball, „wie wir ihn kannten“, seit seiner Verbreitung Ende des
       19. Jahrhunderts, einer Epoche, die von einer starken Tendenz zu
       politischem und kulturellem Nationalismus geprägt war. Heute noch zeugen
       zahlreiche dem Schlachtfeld entliehene Begriffe wie „Angriff“,
       „Verteidigung“, „Flügel“, „Schüsse“, „Kapitän“ und dergleichen mehr von
       diesem kriegerischen Erbe.
       
       ## Fußballer als Soldaten?
       
       Letztlich werden Fußballspieler als Soldaten gesehen, die „kämpfen“
       sollten. Eine geradezu idealtypische Heldenfigur ist Bastian Schweinsteiger
       selbst, dessen [4][Auftreten im WM-Finale 2014] in der Frankfurter
       Allgemeinen als „unbändig“, „abgekämpft“ und „am Ende von Tränen
       überströmt“ in Erinnerung gerufen und von vielen Kommentatoren als
       normativer Maßstab eingefordert wird.
       
       Was sich genau hinter dieser kampfbetonten Sprache im Fußball verbirgt, ist
       nicht unbedingt leicht zu entziffern. Ist mit „zur Wehr setzen“ oder einer
       „aggressiven Zweikampfführung“ gemeint, dass die Verletzung eines Gegners
       hingenommen oder sogar absichtlich provoziert werden soll, um sich einen
       Vorteil zu verschaffen? Muss im Idealfall, wie bei Schweinsteiger 2014, das
       eigene Blut fließen? Die meisten Kommentatoren bleiben diese Präzision
       schuldig.
       
       Ein weiterer, nicht weniger aufschlussreicher Kritikpunkt zielt auf die
       (mangelnde) Kommunikation der Mannschaft und des Bundestrainers. Dem Coach
       wird vorgeworfen, nicht genug von der Seitenlinie aus in das Spiel
       eingegriffen zu haben. Auch die Art der Kommunikation auf dem Spielfeld
       wird kritisiert. Es fehle an Führungsspielern, die Kommandos geben, so
       Schweinsteiger. „Mit einem Thomas Müller wäre es lauter gewesen“, sagte
       Opdenhövel.
       
       Gefordert wird hier eine hierarchische und verbal aggressive Form der
       Kommunikation, die meist nur in eine Richtung verläuft. Es sei erlaubt,
       dies im Jahr 2020 zu hinterfragen. Hängt die Qualität der Kommunikation,
       sei es verbal oder durch Körpersprache, wirklich von Hierarchie und
       autoritärer Lautstärke ab?
       
       ## „Alphamännchen“, die rumbrüllen?
       
       Insbesondere vom Bundestrainer und von den älteren Spielern wird häufig
       erwartet, dass sie die unerfahrenen Spieler regelrecht anbrüllen und ihnen
       als „Alphamännchen“ zu verstehen geben, was sie alles falsch machen. Eine
       derartige Kommunikation führt oftmals allerdings nicht zu besseren
       sportlichen Leistungen, sondern zu allgemeiner Verunsicherung.
       
       Die an die Nationalmannschaft gerichteten normativen Erwartungshaltungen
       färben unweigerlich auf Fußball spielende Kinder, Jugendliche und
       Erwachsene von der Kreisklasse bis hin zur Bundesliga ab. Wollen wir
       wirklich, dass künftige Generationen von Fußballern durch bösartiges
       Einsteigen auffallen, wenn sie nicht mit der Leistung der gegnerischen
       Mannschaft mithalten können? Ist es zeitgemäß, einen aggressiven
       Kommunikationsstil zu pflegen, der Spieler, die Fehler begehen,
       heruntermacht?
       
       Der Fußball, ob uns das gefällt oder nicht, repräsentiert und vermittelt
       Normen und Werte und entfaltet in anderen Gesellschaftsbereichen Wirkung.
       Sollen wir im Klassenzimmer, am Arbeitsplatz und im sozialen Leben
       insgesamt genauso miteinander umgehen, wie es jetzt von der
       Nationalmannschaft gefordert wird? Ist das die Antwort, die der Fußball auf
       den Hashtag #wieleben bietet?
       
       Für TV-Moderator Opdenhövel und Nationalmannschaftsmanager Oliver Bierhoff
       rief die Niederlage gegen Spanien Erinnerungen an das Spiel gegen Brasilien
       bei der WM 2014 hervor, als die deutsche Mannschaft das Halbfinale mit 7:1
       gewann. „Jetzt wissen wir, wie sich die Brasilianer gefühlt haben“, sagte
       Opdenhövel. In Erinnerung an das damalige Auftreten der brasilianischen
       Spieler sprach Bierhoff von einem „Zerfall“ der eigenen Mannschaft.
       
       Was mir persönlich aus diesem Spiel gegen Brasilien in Erinnerung geblieben
       ist, ist jedoch die unglaubliche Besonnenheit und Bescheidenheit der
       deutschen Nationalmannschaft nach dem Schlusspfiff. In einer
       hochemotionalen Situation verzichtete die Mannschaft darauf, in große
       Jubelstürme auszubrechen. Dass sie damit von vorgegebenen, scheinbar
       normativen Handlungsmustern abwich, verschaffte ihr viele Sympathien.
       
       #wieleben – dass diese Frage in der jetzigen Zeit gerechtfertigt ist, wird
       kaum jemand bestreiten. Eine sinnstiftende Antwort findet nur, wer die
       althergebrachten normativen Vorstellungen hinterfragt. Auch im
       traditionsreichen, von Gewissheiten durchtränkten Fußball.
       
       2 Dec 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Debakel-der-Nationalelf-gegen-Spanien/!5725609
   DIR [2] https://www.daserste.de/specials/ueber-uns/ard-themenwoche-2020-wie-leben-100.html
   DIR [3] https://www.sportbuzzer.de/artikel/bastian-schweinsteiger-debakel-spanien-entsetzlich-boateng-muller-reaktionen-dfb/
   DIR [4] https://www.youtube.com/watch?v=VenZoBf9JFc
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ilker Gündogan
       
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