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       # taz.de -- 50 Jahre Tatort: Berauschende Tatortigkeit
       
       > Zum 50. Geburtstag hat der „Tatort“ verpasst, die Rolle der Polizei
       > kritisch abzubilden – mal wieder. Ein Plädoyer für mehr Realität im
       > TV-Krimi.
       
   IMG Bild: Hätte, hätte, Fahrradkette, lieber Tatort...
       
       Er hat’s gesagt. WDR-Intendant Tom Buhrow hat „gesellschaftlich relevant“
       gesagt. Wirklich. Über den „Tatort“. Es ist eine dieser Formulierungen, die
       so erwartbar wie billig sind, dass man sie halt so dahinplaudern kann. Weil
       man sie seit Jahrzehnten so dahinplaudert. Der Anlass diesmal: die Feierei
       zum 50. Geburtstag des „Tatort“.
       
       Buhrow hat wohl übersehen, was sich die Tatortredaktion für diesen Termin
       ausgedacht hat. Die Story der Jubiläumsausgabe ist ungefähr so
       ambitioniert, wie mit der Fernbedienung auf dem Sofa rumzuhängen. Und
       stellt damit die 262 Zoll breite Irrelevanz der Marke weithin flimmernd zur
       Schau. Buhrows Halbsatz: eine bräsige, satte Geste, um die Existenz der
       TV-Reihe zu legitimieren. Motto: Schaut ja ein Großteil der Gesellschaft,
       ergo spiegeln die Themen, die Narrative, die Protagonist:innen
       gesellschaftliche Realität. Na logo!
       
       Nun könnte man sagen, mei, ist halt Fernsehen, noch dazu
       öffentlich-rechtlich, da Realität zu erwarten, mu-hahaha. Aber die Zeiten,
       in denen TV-Krimis nur für gemütlichen, gedankenverlorenen Eskapismus
       dienen, sind einfach mal so was von vorbei. „Tatort“, „Polizeiruf 110“, all
       die anderen, here’s looking at you. Denn das Genre hat die entscheidende
       Chance, zu beweisen, dass es mehr sein will als Alltagsflucht. Dass es was
       zu sagen hat: über unser Jetzt. Nur zeigt diese Jubiläumsausgabe leider
       überdeutlich: Hier will niemand was. Erst recht nicht die knirschenden
       Stellen unserer Gesellschaft aufzeigen – und damit die Rolle der Exekutive.
       Stellen Sie sich daher den nun folgenden Text als ein einziges wütendes
       Schnauben vor. Mit Crescendo.
       
       Es ist doch so: Wir kennen diese ganze Tatorthuberei. Und damit die
       Sonderausgaben, wenn’s mal was zu feiern gibt. Sei es [1][die 1.000. Folge]
       vor vier Jahren [2][„Taxi nach Leipzig“, in der zwei Tatortteams zusammen
       ermittelten] (Lindholm, Borowski) – als Verbeugung vor der allerersten
       Folge, auch sie hieß „Taxi nach Leipzig“. Die [3][Zwischen-den-Jahren-Perle
       „Wer bin ich?“ aus Frankfurt am Main von 2015 mit Kommissar Murot], eine
       einzige selbstreferentielle Konfettisause. Oder zuletzt die [4][zum 30.
       Dienstjubiläum von Lena Odenthal] in Ludwigshafen, ebenfalls bis zur
       Besetzung ein Nostalgiefall. Alles von A bis Z selbstverliebte Drehbücher,
       berauscht von der eigenen Tatortigkeit.
       
       ## Am Heute vorbei
       
       Und jetzt, zum 50. Geburtstag, gibt’s eine Doppelfolge. In der,
       superoriginell, die Münchner und die Dortmunder kollaborieren. „In der
       Familie“ heißt die Story (Buch: Bernd Lange, Regie: Dominik Graf, Pia
       Strietmann). Es geht: um die italienische Mafia, Drogenhandel,
       Vater/Mutter/Tochter und ihr italienisches Lokal.
       
       Entschuldigung, aber, höflich geflucht: Ist das euer verdammter Ernst?
       „Tatort“, Spiegel der Gesellschaft, und das ist alles, was ihnen einfällt.
       Zwei Folgen an zwei Sonntagen mit zwei Teams. Über die ’[5][Ndrangheta].
       Und eine Pizzeria. Man sollte wahrscheinlich froh sein, dass es keine
       arabische Clankriminalitätsstory wurde.
       
       Und das zum wichtigsten Tatorttermin seit Existenz des „Tatorts“: ein
       halbes Jahrhundert (!) westdeutscher und 30 Jahre gesamtdeutscher
       Fernsehgeschichte. Wenn es gilt, einen Kriminalfall zu zeigen, der
       inhaltlich unser Heute reflektiert – und die Rolle der Polizei in diesem
       Heute gleich mit. Keine Idee? Wirklich?
       
       ## Lauter „Einzelfälle“
       
       Hier mal eine Liste: Da ist das Netzwerk aus Bundeswehrsoldaten,
       Polizisten, Reservisten, Verfassungsschützern, die sich mit Waffen auf
       einen ominösen Tag X vorbereiten. Die taz hat das rechte Netzwerk [6][vor
       zwei Jahren aufgedeckt]. Da sind sogenannte „[7][Todeslisten“ von
       Rechtsextremen] mit Informationen über vermeintliche „Feinde“, die von der
       Exekutive durchgestochen wurden. Da sind [8][Drohschreiben von einem „NSU
       2.0“] mit Privatadressen, die von Polizeicomputern abgefragt wurden. Da
       sind die Beweismittelberge über das [9][Kindesmissbrauchsnetzwerk in
       Lügde], die aus den Räumen der Kripo verschwunden sind. Da sind die –
       gefühlt – alle paar Tage [10][neu auftauchenden Polizeichats], die voll
       sind mit menschenverachtender Hetze.
       
       Da sind die zahlreichen Fälle von rassistischer Polizeigewalt, wie etwa im
       Sommer in Hamburg, als [11][acht Beamt:innen einen 15-Jährigen
       überwältigten], weil er mit dem Roller auf dem Gehweg fuhr. Und die
       monatelange trotzige Weigerung von Bundesinnenminister Horst Seehofer, eine
       [12][Studie über Rassismus in der Polizei] in Auftrag zu geben.
       Mittlerweile hat er eingelenkt. Allein während dieser Text entsteht, kommt
       folgende Meldung rein: „Zwei Jahre lang hat ein Sonderermittler für den
       Bundestag untersucht, ob deutsche Behörden energisch genug gegen
       rechtsextreme Soldaten und Polizisten vorgehen“ – die Erkenntnis: tun sie
       nicht.
       
       Lauter „Einzelfälle“, wie immer beteuert wird, natürlich, die aber längst
       den Blick auf Polizei, Bundeswehr, Militärischen Abschirmdienst und
       Verfassungsschutz prägen. Und die am Heldentopos kratzen, den die
       TV-Polizei darstellt. An der Inszenierung der Figur vom „Freund und
       Helfer“, der die Ordnung wieder herstellt. Alles im Namen des
       Grundgesetzes.
       
       Es ist daher überfällig, die beiden Versionen – fiktiv und echt – einander
       anzunähern. Dass die [13][TV-Realität von Cop-Shows] die Wahrnehmung der
       gelebten Realität beeinflusst, ist als „CSI-Effekt“ vor allem über
       US-Serien gut [14][erforscht]. Hierbei geht es zwar in erster Linie um die
       Polizeiarbeit in technischen Details, Forensik und dergleichen. Aber der
       Einfluss geht weit über die Finessen der Spurenanalyse hinaus.
       
       Meist folgen die Storys dem traditionellen Gerüst, in dem die Ermittelnden
       als moralisch gute Hauptfiguren allen Raum einnehmen – und die Opfer und
       Verdächtigen sich daneben wie skizzenhafte Randnotizen ausnehmen. Doch
       unsere Realität zeigt, dass das Profil des „good cop“ nicht mehr als
       Standardeinstellung für Drehbücher taugt.
       
       Wie brüchig und gefährlich das Narrativ dieser Heldenrolle ist, wird vor
       allem in den USA immer lauter debattiert. Angefangen beim Podcast
       [15][“Running From Cops“] von 2019 über die am längsten laufende
       Reality-TV-Serie „Cops“ und ihren Einfluss aufs Handeln der echten Polizei
       – und auf den Blick der Bevölkerung auf die Polizei.
       
       Der strukturelle Rassismus dieser Show war ein Grund, weshalb die Serie im
       Sommer nach 31 Jahren als Reaktion auf die Black-Lives-Matter-Bewegung
       eingestellt wurde (und nun wohl doch wieder gedreht wird). Anfang 2020 hat
       eine Studie der NGO „[16][Color of Change“] genau mit diesem Blick
       US-TV-Krimis untersucht. Das Ergebnis: Die Serien normalisieren systemische
       Ungerechtigkeit gegenüber Schwarzen Menschen und PoC. Und zeigen Schwarze
       Cops am liebsten als schlechte Cops.
       
       ## Die Lücke füllen
       
       Es gibt im US-TV rare Gegenbeispiele (etwa „Unbelievable“ oder „When They
       See Us“). Aber deutsche Pendants, puh, wo? Die neue Mockumentary „[17][How
       to Tatort“ übers neue Bremer Trio] hilft nicht. Story: Frauen und
       Nicht-Weiße werden aus Tatortrollen gemobbt. Wenn, geht’s halt nur in
       witzig. Erbärmlich.
       
       Ausgerechnet Eva Prohacek ist nun pensioniert: die einzige TV-Krimi-Figur
       der letzten Jahre, die für interne Ermittlungen zuständig war, bei „Unter
       Verdacht“ im ZDF. Zwei Sonntagabendteams müssten drin sein, um diese Lücke
       zu füllen, mindestens. Und bitte aus großen Bundesländern, für mehrere
       Folgen im Jahr. Für Fernsehen, das vormacht, wie selbstbewusst
       selbstkritisch Polizeiarbeit aussehen kann.
       
       28 Nov 2020
       
       ## LINKS
       
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   DIR [13] /Literaturexpertin-ueber-Krimis/!5689451
   DIR [14] https://www.springer.com/de/book/9783658024147
   DIR [15] https://www.topic.com/runningfromcops
   DIR [16] https://hollywood.colorofchange.org/crime-tv-report
   DIR [17] https://www.ardmediathek.de/radiobremen/sendung/how-to-tatort/staffel-1/Y3JpZDovL3JhZGlvYnJlbWVuLmRlL2JmNTQxZDkxLTcyNWEtNDQ4NS1hZTY3LWRhZmI2YTNkMGMwZg/1/
       
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