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       # taz.de -- Wissenschaftlerinnen über Rassismus: „Erschreckende Stille“
       
       > In einem offenen Brief an die Staatsanwaltschaft fordern
       > Wissenschaftler*innen Aufklärung über den Tod des Psychiatriepatienten
       > Tonou-Mbobda.
       
   IMG Bild: Weiter so viele Fragen wie damals offen: Kundgebung vor dem UKE nach dem Tod Tonou-Mbobdas 2019
       
       taz: Frau Gardi, Frau Runge, als Verfasserinnen eines offenes Briefes an
       die Staatsanwaltschaft Hamburg wehren Sie sich gegen die [1][Einstellung
       des Verfahrens] im Zusammenhang mit dem Tod von William Tonou-Mbobda.
       Warum? 
       
       Awista Gardi: Um das zu beantworten, müssen wir in die Geschichte von
       Krankenhäusern und Psychiatrien schauen. Deren Entstehung war eng
       verknüpft mit der Kontrolle von und Gewalt gegen Menschen, die als nicht in
       gesellschaftliche Normen passend markiert werden. Dazu gehören queere
       Menschen, aber auch Schwarze Menschen und Personen of Colour.
       Diskriminierung hat diese Gewalt immer wieder legitimiert und durchführbar
       gemacht.
       
       Und der Tod von William Tonou-Mbobda ist ein weiteres Beispiel? 
       
       Gardi: William Tonou-Mbobda war ein Schwarzer Mann, der übertrieben
       gewaltvoll behandelt wurde. Sein Fall reiht sich in eine Systematik ein.
       Ein Verfahren wäre wichtig, um der Verantwortung, die Deutschland in Bezug
       auf diese Systematik hat, nachgehen zu können. Gleichzeitig wäre die
       juristische Aufklärung seiner Todesumstände unglaublich wichtig für die
       Hinterbliebenen. Aber auch die Öffentlichkeit braucht eine nachvollziehbare
       Aufklärung, insbesondere, wenn wir mit Öffentlichkeit auch Schwarze
       Menschen in Hamburg meinen.
       
       Pauline Runge: Der Fall zeigt, dass Schwarze Menschen und Personen of
       Colour in Deutschland nicht sicher leben können und kein gerechtes
       juristisches Verfahren bekommen. Daraus ergibt sich eine gesellschaftliche
       Verantwortung, sich damit auseinander zu setzen. Und das nicht im Stillen,
       sondern so laut, dass es gehört wird.
       
       Und Sie und die vielen Unterzeichner*innen [2][des Briefs] aus
       Universitäten und Hochschulen wollen eine laute Stimme sein? 
       
       Runge: Zuerst einmal finden wir es erschreckend, dass der Fall nicht für
       einen zivilgesellschaftlichen Aufschrei gesorgt hat und diese Stille
       herrscht. Der Brief ist eine Reaktion auf die Forderung der Black Community
       Hamburg, dass sich auch Menschen aus der Zivilgesellschaft und aus
       Institutionen positionieren sollen. Und wir wollten uns nicht nur als
       Einzelpersonen aktiv zeigen, sondern auch in unserer Funktion als
       Mitarbeiterinnen im Hochschulkontext.
       
       Warum? 
       
       Runge: Wir sehen es als Teil unserer Profession, also als Menschen in der
       Sozialen Arbeit, dass wir soziale Probleme verstehen und zu mehr sozialer
       Gerechtigkeit beitragen wollen. Und wenn es einen Vorfall gab, der so
       gewaltvoll war und auf ein soziales Problem wie den institutionellen
       Rassismus verweist, dann verstehen wir es als selbstverständlich, dass wir
       uns mit unserem Professions- und Ethikverständnis positionieren müssen.
       Gleichzeitig ist unsere Profession in der Geschichte daran beteiligt
       gewesen, Gewalt in der Wissenschaft zu legitimieren, auch deshalb
       positionieren wir uns.
       
       Sie betonen in Ihrem offenen Brief die politische Bedeutung einer Anklage.
       Justiz sollte doch aber unpolitisch sein. 
       
       Gardi: Wir sind uns der Relevanz der Gewaltenteilung in Deutschland
       bewusst. So meinen wir das jedoch nicht. Es geht uns nicht um die
       Strukturierung der Judikative, sondern um die Praxis der Anklageerhebung
       und der Rechtsprechung. Diese Praxen sind auch immer eine Deutung
       derjenigen, die das Recht sprechen. Recht ist also eine hermeneutische
       Praxis, eine Art interpretativen Vorgehens. Und wenn das
       Gerechtigkeitsgefühl der von Rassismus Betroffenen mit dieser Deutung immer
       wieder nicht im Einklang steht, dann kann man sich die Frage stellen, ob
       Rechtsprechung überhaupt unpolitisch ist.
       
       Für Sie ist sie das also nicht? 
       
       Gardi: Wir müssen im Blick haben, dass wir Recht und Gerechtigkeit
       voneinander trennen müssen. Es gibt rechtliche Praxen, die nicht gerecht
       sind. Und wenn das der Fall ist, dann haben wir die Verantwortung, die
       rechtlichen Praxen zu hinterfragen und zu versuchen, sie mehr zu sozialer
       Gerechtigkeit hin zu verändern. Diese Frage wird auch immer wieder von
       Anwält*innen von Betroffenen von sexualisierter Gewalt aufgeworfen. Was wir
       aber sicher sagen können ist, dass das Verhalten der Justiz immer in einem
       politischen Kontext erfolgt. Und mit politisch meinen wir, dass Politik
       beschreibt, wie gesellschaftliches Leben strukturiert wird, nach welchen
       Normen wir leben wollen oder können.
       
       Das heißt? 
       
       Gardi: Wenn wir sehen, dass juristisch immer wieder auf eine Art und Weise
       vorgegangen wird, nach der rassistische Morde entweder nicht einmal zur
       Anklage gebracht werden oder mit Freispruch oder niedrigen Urteilen enden,
       dann sagt das sehr viel darüber aus, wie gesellschaftlich mit Rassismus
       umgegangen wird.
       
       Laut Staatsanwaltschaft gibt es in dem Fall keinen Hinweis auf einen
       rassistischen Hintergrund. 
       
       Gardi: Wenn wir davon ausgehen – und das tun wir als Wissenschaftlerinnen,
       die sich mit Rassismus auseinander setzen – dass Rassismus ein
       grundlegendes, strukturierendes Element dieser Gesellschaft ist und in
       jeder Interaktion und Handlung eine Rolle spielt, manchmal impliziter,
       manchmal expliziter, und wenn wir uns dann auch noch die Geschichte der
       Psychiatrien und die koloniale Geschichte Deutschlands anschauen, dann
       müssen wir davon ausgehen, dass Rassismus eine Rolle gespielt hat. Die
       Frage müsste also nicht sein, ob Rassismus eine Rolle gespielt hat, sondern
       inwiefern.
       
       Die Ermittlungen wurden laut Staatsanwaltschaft unter anderem eingestellt,
       weil die Beschuldigten aus Notwehr gehandelt hätten. Ist das für Sie
       nachvollziehbar?
       
       Gardi: Insbesondere das Argument der Notwehr bei einem Schwarzen Mann, der
       eigentlich nach Hilfe gesucht hat in einer Institution, weist darauf hin,
       wie lebhaft rassistische Vorstellungen von gewaltvollen Schwarzen Männern
       sind. Wir erkennen sie immer noch daran, dass Schwarze Männer, sogar wenn
       sie sitzen, als gewalttätig markiert werden und eine Gewaltanwendung, die
       zum Tod führt, als Notwehr markiert wird. Allein dieses
       Argumentationsmuster weist auf sehr viel impliziten Rassismus hin.
       
       Sie fordern, dass ein unabhängiger, von der Zivilgesellschaft getragener
       Ausschuss den Tod von William Tonou-Mbobda untersucht. Wie genau soll das
       aussehen? 
       
       Runge: Damit schließen wir uns der Forderung der Black Community Hamburg
       an. Die Frage, wie dieser Ausschuss aussehen kann, ist unbedingt mit der
       Black Community Hamburg und den Hinterbliebenen William Tonou-Mbobdas
       auszuhandeln. Wir wollen da keinen Ton angeben.
       
       3 Jan 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Patient-stirbt-nach-Zwangsmassnahmen/!5702144
   DIR [2] https://drive.google.com/file/d/1qK7znsr_fY2LILYCNhWGfYGmoBHFrhlS/view
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Marthe Ruddat
       
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